Der geduldige Tod (German Edition)
spürte, wie Schweißtropfen ihre Schläfe hinunterliefen. Das war nicht nur völlig absurd, sondern schlichtweg verrückt.
»Ich glaube Ihnen. Vielleicht nicht zu einhundert Prozent, aber immerhin zu achtzig. Das muss reichen.«
»Das ist völlig irre!«
»Immerhin wissen wir jetzt, warum Ihr Pass gestohlen wurde.«
»Wer sollte so etwas tun? Und vor allem, warum?«
»Das ist eine sehr gute Frage, auf die ich leider keine Antwort weiß.«
Dass ein irrer Killer Frauen tötete, weil er aus deren Einzelteilen einen neuen Menschen zusammensetzen wollte, war auf gewisse Weise noch nachvollziehbar. Aber was wollte er mit einem Psychiater? Und warum wollte er dafür das Opfer eines anderen Serienmörders verantwortlich machen? Das ergab alles keinen Sinn.
»Wie war Ihr Verhältnis zu Dr. Jericho?«
»Er hat mich nach dem versuchten Mord zweimal wöchentlich behandelt. Ich litt an Depressionen und schweren Angstanfällen. Er hat mir Tabletten gegeben und mich beraten. Was ein Psychiater in solchen Fällen eben macht.«
»Verband Sie vielleicht mehr mit ihm?«
»Was meinen Sie?«
»Hatten Sie eine Affäre mit ihm?«
»Nein!« Victoria schrie es fast. »Es war alles rein beruflich!«
»Worüber haben Sie gesprochen, als Sie ihn das letzte Mal anriefen?«
»Ich hatte ihn um Rat gefragt, was Francisco anbelangte. Ich war völlig verunsichert, ob ich dem jungen Mann trauen konnte. Er hat mir dazu geraten.«
»Klang er irgendwie anders als sonst?«
»Nein. Mir ist nichts aufgefallen.«
»Fällt Ihnen sonst noch etwas ein, was er mit Ihnen zu schaffen haben könnte?«
Victoria dachte einen Moment nach, dann schüttelte sie den Kopf. »Ich habe keine Ahnung.«
»Vielleicht finden die deutschen Behörden noch etwas heraus.«
»Was ist mit meinem Exmann? Haben Sie ihn gesprochen?«
»Ich habe mit seiner Familie und seinen Kollegen gesprochen. Sie haben ihn seit einigen Wochen nicht gesehen. Angeblich ist er im Urlaub.«
Victoria spürte, wie eine feine Gänsehaut ihren Rücken entlangkroch. »Lebt er noch?«
»Ich weiß es nicht. Die Deutschen versuchen, ihn ausfindig zu machen.«
»Kann das alles etwas mit mir zu tun haben?«
»Auch das weiß ich nicht. Fakt ist, dass Sie in irgendeiner Form mit dieser Mordserie verknüpft sind. Ich habe nur leider keine Ahnung, inwiefern.«
»Das ist so unglaublich«, flüsterte Victoria. »Dabei hieß es immer, es sei unwahrscheinlich, zweimal einem Serientäter zum Opfer zu fallen.«
»Es ist auch unwahrscheinlich, im Lotto zu gewinnen, und trotzdem schaffen es manche.«
Die Kommissarin betrachtete die Deutsche, wie sie zusammengekauert auf dem Bett saß und kopfschüttelnd versuchte, das Gehörte zu verarbeiten. »Es kann sein, dass die deutschen Behörden Ihre Auslieferung verlangen, um Sie zu dem Mord an Ihrem Psychiater zu vernehmen.«
»Aber ich habe nichts damit zu tun!«, rief Victoria erschrocken aus.
»Ich weiß. Deshalb biete ich Ihnen an, die Auslieferung zu verweigern.«
»Das würden Sie tun?«
»Unter einer Bedingung.«
Victoria beschlich ein ungutes Gefühl. »Welche wäre das?«
»Sie helfen mir, den Mörder der Frauen hier zu finden.«
»Aber wie denn? Wie sollte ich das denn anstellen?«
»Sie sind die einzige Person, die einen Serienmörder erlebt hat, so wie er wirklich ist. Wie er aussieht, wenn er sich auf das Morden freut, wie seine Augen blitzen, wenn er seine Beute erblickt. Wie sein Atem riecht, wenn er den Todesstoß versetzt. Das weiß niemand sonst. Dieses Wissen kann helfen, den Killer hier auf der Insel aufzustöbern.«
»Wie stellen Sie sich das denn vor?«, fragte Victoria entsetzt. »Soll ich durch die Gegend laufen und nach dem Mörder suchen? Ihn bitten, dass er mich mal anhauchen soll? Das ist verrückt!«
»Nein, natürlich nicht. Sehen Sie sich die Fotos noch einmal in Ruhe an. Sagen Sie mir, was Ihnen auffällt, welche Unterschiede Sie im Vergleich zu den Morden damals entdecken. Erinnern Sie sich an alles und jeden Menschen, der Ihnen hier begegnet ist, und vergleichen Sie es mit damals.«
»Das kann ich nicht. Ich lasse die Erinnerungen nicht mehr zu, damit ich einigermaßen heil durch den Tag komme. Wenn ich es versuche, kommen die Angstattacken zurück.«
Die Kommissarin trat einen Schritt auf sie zu. »Dann bleibt mir nichts anderes übrig, als Sie nach Deutschland zu schicken, wenn die Sie anfordern. Wenn Sie keine wertvolle Zeugin sind, habe ich keinen Grund, Sie hierzubehalten.«
Victoria zögerte.
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