Der Gefährte des Wolfes: Tristan (German Edition)
ersten Seite sprangen ihm die Furcht und die entsetzliche Einsamkeit des Mannes entgegen. Tristan fühlte sich von einer unsichtbaren Hand gewaltsam durch die Zeiten und hinein in die Welt dieses Mannes gerissen, direkt in seinen Geist und sein Herz.
Mit jeder Seite erfuhr er mehr über die körperlichen Schmerzen, die unstillbaren Sehnsüchte und den grenzenlosen Ekel, den der Mann über die eigenen Taten empfand, die er nicht zu kontrollieren vermochte, wenn das Tier in ihm die Oberhand gewann.
Trotzdem war es diesem Mann offenbar durch schiere Willenskraft gelungen, der Verwandlung für mehrere Mondzyklen zu widerstehen, auch wenn sie ihn anschließend mit ganzer Macht überrollt hatte. In einem unkontrollierbaren Blutrausch hatte er zwei Mitglieder seines Haushalts getötet, darunter auch seine eigene Mutter.
Tristan erschrak, als plötzlich eine Träne auf die Seite tropfte und die Tinte ein wenig verschmierte.
»Scheiße!« Schnell rieb er sich über die Augen. Ihm war nicht bewusst gewesen, dass er zu weinen begonnen hatte, doch seine Wangen waren nass vor Tränen. Hastig griff er nach einem Taschentuch, um die Seite vorsichtig trockenzutupfen.
»Tristan!«, rief Benjamin von der Tür aus. Sein Tonfall klang dabei sehr viel schärfer, als er beabsichtigt hatte. Im selben Moment, als er die Wohnung betreten hatte, hatte er Tristans Bestürzung gespürt und ihn daraufhin im ganzen Haus gesucht.
Schuldbewusst zuckte Tristan zusammen. »Es tut mir so leid. Ich wollte nicht...«
Er verstummte, als Benjamin auf ihn zukam und die geschwollenen Augen, die tränenüberströmten Wangen und das zusammengeknautschte Taschentuch in Tristans Hand entdeckte. Nervös wand sich Tristan und versuchte gleichzeitig, den überwältigenden Drang wegzurennen zu unterdrücken, als Benjamin sich ihm näherte.
Benjamin nahm Tristans Angst wahr und verlangsamte seine Schritte. Nur wenige Zentimeter von ihm entfernt blieb er stehen, konnte aber seine Finger nicht davon abhalten, sanft über die feuchte Wange zu streichen und schließlich behutsam sein Gesicht zu umfassen. Tristan schmiegte sich in die tröstende Berührung, seine Augen schlossen sich und Frieden kehrte in sein unruhiges Herz ein.
»Was hat dich so aufgewühlt?«, fragte Benjamin sanft, während sein Blick zum Schreibtisch wanderte. »Ah... Nathaniel. Eine der tragischsten Gestalten in unserer verfluchten Familie. Er hat sich nie mit dem Tier arrangieren können und ist bei dem Versuch, davor zu fliehen, gestorben.
Man dachte, der Fluch hätte mit ihm sein Ende gefunden, er hat sich das Leben genommen, bevor er einen offiziellen Nachkommen gezeugt hatte. Jahre später stellte sich heraus, dass es doch einen unehelichen Sohn gab. Trotzdem gefällt mir der Gedanke, dass er Frieden im Tod fand, weil er davon ausging, dass niemand in unserer Familie mehr so leiden musste, wie er es getan hatte.«
»Ich... ich hab‘ es beschädigt...« Tristans Stimme ließ ihn im Stich und so deutete er einfach nur auf den kleinen, verschwommenen Fleck auf der Seite, die er zuletzt gelesen hatte.
Benjamin lächelte sanft. Seine Hand glitt in die langen Locken und massierte beruhigend Tristans Nacken, woraufhin sich seine Augen unmerklich weiteten. Sofort brach der Wolf in Benjamin hervor, als er die Welle des Verlangens witterte.
Mit leichtem Druck zog er Tristan näher an sich heran. Knurrend zog er ihn fester an seine Brust und starrte geradeaus an die Wand, als ihm bewusst wurde, dass er seinen bücherliebenden Retter beinahe geküsst hätte.
»Du bist nicht der Erste, den Nathaniels Worte zu Tränen gerührt haben, und ich bezweifle, dass du der Letzte sein wirst«, sagte er schroff.
Tristan nutzte seine Position an Benjamins Brust als Gelegenheit, um es mit dem Gefühl aus seinem Traum zu vergleichen. Der Geruch, die starken Arme, der schnelle Herzschlag – das alles kam ihm unglaublich bekannt vor. Jetzt wusste er ohne jeden Zweifel, dass Benjamin ihn letzte Nacht in der Bibliothek gefunden und in sein Zimmer getragen hatte. Allein der Gedanke ließ die Hitze durch seinen Körper rasen.
Das Verlangen, das von Tristan ausging, ließ Benjamin hastig ein wenig Abstand nehmen, bevor er die Kontrolle über die wildere Seite seiner Natur verlor. Das Tier in ihm schrie geradezu danach, Tristan in Besitz zu nehmen und ihn für sich zu beanspruchen. Mit zitternden Fingern fuhr sich Benjamin durchs Haar und öffnete schließlich den kleinen Kühlschrank, um sich eine Flasche
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