Der Gefährte des Wolfes: Tristan (German Edition)
Wasser heraus zu holen.
»Hast du dich etwa den ganzen Tag hier drinnen eingeschlossen und meinen verstorbenen Vorfahren beweint?«
Nachdem sich Benjamin so plötzlich von ihm zurückgezogen hatte, schwankte Tristan ein wenig. Um nicht das Gleichgewicht zu verlieren, klammerte er sich am Schreibtisch fest, während er Benjamin dabei zusah, wie dieser mit geschmeidigen Bewegungen durchs Zimmer ging, um sich in dem Ledersessel niederzulassen, in dem Tristan die Nacht zuvor geschlafen hatte.
»Eigentlich habe ich den Großteil des Tages verschlafen, aber ja, seitdem bin ich hier drin. Wie spät ist es überhaupt?« Er warf einen Blick aus dem Fenster und versuchte, anhand des trüben Lichts die Zeit zu schätzen.
»Halb acht. Da wir nur noch heute Abend in der Stadt sein werden, hab‘ ich gedacht, du möchtest vielleicht gern zum Abendessen ausgehen«, bot Benjamin an.
Auszugehen war eigentlich nicht wirklich seine Absicht gewesen, als er vorhin nach Hause gekommen war. Wenn der Vollmond so kurz bevorstand, zog er in der Regel die Einsamkeit der Geselligkeit vor. Aber der Gedanke, mehrere Stunden mit Tristan allein zu sein, bevor er sich, ohne Verdacht zu erregen, zum Schlafen zurückziehen konnte, schien ihm keine besonders gute Idee zu sein.
Tristan stimmte bereitwillig zu. Zum ersten Mal hatte er einen Menschen kennengelernt, dessen Gesellschaft er seinen Büchern vorzog. Nur zu gern hätte er William davon erzählt, allerdings waren seine Sinne von den neuen Eindrücken noch zu sehr eingenommen, als dass er sich darauf hätte konzentrieren können, den Kontakt zum Geist seines Bruders herzustellen.
Ihm kam der Gedanke, dass es vielleicht auch an der Entfernung liegen könnte, während er, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, nach oben lief. Sie hatten ihre Gabe noch nie über die Distanz eines ganzen Kontinents hinweg benutzt.
Sobald sie in Benjamins Landhaus angekommen waren, würde er ein langes und ausgiebiges Telefonat mit William führen, versprach er sich, ehe er seinen Koffer nach etwas Passendem zum Anziehen durchsuchte.
Er entschied sich für eine schwarze Leinenhose, das einzige Paar Hosen in seinem Gepäck das keine Jeans war, und ein schokoladenbraunes Seidenhemd, von dem Will ihm versichert hatte, dass es ein sündiges Spiel mit seinen Augen trieb.
Tristan vermutete eher, dass sein Bruder mit dieser Bemerkung daran interessiert gewesen war, herauszufinden, wie es zu seinen eigenen Augen passte, als er es sich ausgeliehen hatte, aber da sie ja dieselbe Augenfarbe hatten, würde es vielleicht Benjamins Aufmerksamkeit erregen.
Er sprang noch einmal kurz unter die Dusche und kämmte sich dann schnell mit den Fingern durch die Haare. Automatisch griff er nach dem Lederband, mit dem er die wilden Locken normalerweise zurückband, entschied sich aber im letzten Moment dafür, sie doch offen über seine Schultern fallen zu lassen. Er legte seine Halskette mit den Schutzamuletten um, warf noch einen letzten, prüfenden Blick in den Spiegel und befand, dass er ganz präsentabel aussah.
Benjamin hatte Tristan nicht gesagt, wo sie sich treffen würden, und war daher von dem vorsichtigen Klopfen an seiner Schlafzimmertür ziemlich überrascht. Hektisch blickte er sich im Zimmer um, griff nach einem sportlich geschnittenen Jackett, das über dem Kopfende des Bettes hing, und schob seine Arme in die mit Seide gesäumte Baumwolle, während er zur Tür ging.
Tristan in seinem Schlafzimmer stehen zu haben, gehörte nicht zu den Dingen, mit denen er im Moment besonders gut klarkommen würde. In seinem gegenwärtigen Zustand hatte er sich nur sehr dürftig unter Kontrolle und es konnte gut sein, dass sie das Schlafzimmer nicht vor dem abnehmenden Mond wieder verlassen würden.
Mit einem Ruck öffnete er die Tür und trat in derselben Bewegung auf den Gang hinaus – neutrales Gebiet. »Du hast dich aber ganz schön beeilt, was?«
»Scheint so.« Tristan blickte an Benjamin vorbei in das riesige Schlafzimmer, das in den Farben Schwarz, Grau und Créme gehalten war. Eigentlich hatte er darauf gehofft, mehr als nur einen kurzen Blick auf den geheimnisvollen Raum erhaschen zu können. Es war das einzige Zimmer in der Wohnung, das er noch nicht gesehen hatte. Er vermutete, dass es Benjamins Rückzugsort darstellte und ihm damit am meisten über seinen Gastgeber verraten würde.
»Also, wollen wir dann los?«, fragte Benjamin und bedeutete Tristan, ihm die Stufen hinunter zu folgen.
»Wo genau gehen wir hin?
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