Der Gefangene der Wüste
Wahrheit, Doktor.«
»Ich weiß es nicht – das ist die volle Wahrheit.« Bender zog die unteren Lider herab … rosa. Er sah in den Mund Achmeds … rosa. Er machte einen Gewalttest und ließ seine Hand flach auf den Magen fallen. Ali verzog zwar das Gesicht, aber schrie nicht auf.
»Kein Blut im Kot?« fragte Bender unschlüssig.
»Doch!«
»Wann?« Bender zog die Brauen zusammen. »Spontanes Blut? Es lief einfach heraus?«
»Nein. Jussuf machte mir ein Klistier. Dabei kam es.« Achmed schien das Sprechen sehr anzustrengen … er drückte den Kopf in die Kissen zurück und verfiel wieder, als löse sich das Fleisch von seinen Knochen. Bender blickte zur Seite zu dem murmelnden uralten Kebir.
»Wer ist Jussuf?«
»Unser Hakim.« Kebir ahnte Schwierigkeiten und antwortete nur so viel wie nötig.
»Ein ausgebildeter Arzt Ihres Volkes?«
Da haben wir es, dachte Kebir. Diese Frage mußte kommen. Was sagt man darauf? Eine halbe Lüge ist auch eine halbe Wahrheit.
»Kann sich eine Oase wie Bou Akbir einen eigenen studierten Hakim leisten? Kommt hier jemand hin und wartet auf Kranke? Ein Verrückter müßte er sein! In den Städten liegt das Geld für ihn auf der Straße. Hier kommen nur die Regierungsärzte hin, wenn sie eine Seuche vermuten! O nein … Jussuf ist ein tüchtiger Mann, der bei einem Arzt gelernt hat! Er hat im Befreiungskrieg sogar operiert.«
»Also ein Sanitäter?«
»Nennt ihr es so? Was er auch ist … er versteht sein Handwerk. Für uns reicht er aus … alles andere ist Allahs Wille.«
»Das ist einfach, wirklich!« Bender stand auf. »Ein Klistier, das war ein Verbrechen! Wollt ihr Achmed umbringen?!« schrie er plötzlich. »Hier ist wohl alles Allahs Wille?! Haß und Mord, das Verschwinden von Menschen – alles im Namen Allahs, was?«
Der alte Kebir hob die Schultern und las weiter im Koran, der heiligen Schrift des Islams. Er wird uns nie verstehen, dachte er. Wie kann er das auch? Weniger wissen und mehr glauben … da liegt das Glück! Es lebt sich leichter, und es stirbt sich leichter, wenn Allah der Einzige ist, der alles regelt. Wenn es beginnt, daß der Mensch stärker und mächtiger ist als Gott, wie kann er dann an das Paradies glauben? Ohne es aber, ohne die Houris, die Mohammed uns versprochen hat am Ende des Lebens, ohne die Wonnen der Sieben Himmel ist das Sterben eine Strafe.
»Was wollen Sie tun, Doktor?« fragte nun auch Kebir, als Ali ben Achmed wieder aufstöhnte.
»In ein paar Minuten wird ein Hubschrauber landen und Achmed nach Algier bringen.«
Der alte Kebir hob den Kopf und warf den Koran weg. »In die Hauptstadt? Warum? Können Sie ihn noch retten?«
»Das wiederum weiß nur Allah –«, sagte Bender mit dickem Hohn. »Auf jeden Fall werden wir ihn so schnell wie möglich operieren.«
»Ihr werdet ihm den Bauch aufschneiden?«
»Ja, wir werden hineingucken und sehen, was es ist. Eines weiß ich fast mit Sicherheit … es ist nicht die Hadjar-Krankheit.«
»Nicht?« Der alte Kebir sprang auf. Auch Achmed öffnete die Augen, aber er war zu schwach, um etwas zu sagen. »O Allah, Allah!« schrie der alte Priester. »Wir danken dir.« Er fiel, als habe man ihm die Füße weggetreten, flach auf das Gesicht und streckte die Arme weit vor. So lag er, den Kopf nach Osten, zum allerheiligsten Mekka, und sang in den dicken Teppich hinein die Suren des Dankes und der Ergebenheit.
Dr. Bender untersuchte noch einmal den leise wimmernden Ali. Dann gab er ihm eine schmerzstillende Injektion, aber gleichzeitig auch eine Kreislaufstütze. Der Puls war flach und weich, die Atmung unregelmäßig. Als die bohrenden Schmerzen in seinem Leib nachließen, versuchte Achmed ein Lächeln. Sein Gesicht wirkte wie eine verzerrte Maske.
»Alles ist so leicht«, sagte er. »Die Schmerzen gleiten weg wie die Nachtschatten vor der Morgensonne. Was haben Sie mit mir gemacht, Doktor?«
»Ich habe Ihnen ein Morphinpräparat injiziert, Achmed. Wenn nachher das Flugzeug kommt, werden Sie schlafen. Und wenn Sie wieder aufwachen, kann schon alles vorbei sein …«
»Werde ich wieder aufwachen, Doktor?« In dieser Frage lag keine Angst vor dem Tod, sondern nur die Bitte um Wahrheit.
»Ich hoffe es sehr, Achmed.« Bender setzte sich wieder neben ihn. Seitlich von ihnen lag der alte Kebir auf dem Teppich und sang verzückt seine Suren. »Seit wann haben Sie Magenschmerzen?«
»Seit Jahren, Doktor. Aber nie stark.«
»Wie ist es bei fetten Speisen?«
»Ich habe oft danach gewürgt.
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