Der gefangene Stern
Stadt zu fahren, machte keinen Sinn, schon gar nicht, wo sie so eine perfekte Übernachtungsmöglichkeit hatten.
Und außerdem, dachte Jack, könnte M.J. jederzeit noch einmal zusammenbrechen. Sie musste etwas essen und sich richtig ausschlafen, dann würde sie sich schon wieder fangen.
Nicht zu vergessen die fünfstündige Autofahrt – wenn sie jetzt einfach zurückfuhren, hätten sie beide das Gefühl, dass die Suche nach Graces Haus vollkommen umsonst gewesen war. Und er brauchte Zeit, um an dem Plan zu arbeiten, der sich langsam in seinen Gedanken formte.
„Geh unter die Dusche“, forderte er sie auf. „Leih dir ein T-Shirt oder so was von deiner Freundin. Danach wirst du dich schon viel besser fühlen.“
„Stimmt, das kann nicht schaden.“ Sie rang sich ein Lächeln ab. „Ich dachte, du wolltest duschen? Möchtest du vielleicht Wasser sparen?“
„Nun …“ Das Angebot war äußerst verlockend. Er konnte sich nur zu gut vorstellen, wie er sie am ganzen Körper einseifen und dann der Natur ihren interessanten Lauf lassen würde. Doch zugleich wusste er, dass sie seit Stunden nicht eine Minute ungestört gewesen war. Es war zwar nicht viel, aber das Einzige, was er ihr bieten konnte.
„Ich mache mich erst mal auf die Suche nach etwas zu trinken. Vielleicht hat deine Freundin doch die eine oder andere Dose rumliegen.“ Er küsste sie zart auf die Nasensitze. „Fang schon mal ohne mich an.“
„Okay, wenn du schon dabei bist, kannst du auch für mich etwas zu trinken auftreiben. Aber rechne nicht damit, Bier im Kühlschrank zu finden. Und nur Gott allein weiß, was sich in den Dosen befindet.“ Auf dem Weg ins Bad blieb sie noch einmal stehen und drehte sich um „Jack? Danke, dass ich mich bei dir ausweinen durfte.“
Beinahe verlegen vergrub er die Hände in den Taschen. Ihre Augen, diese exotisch geformten Katzenaugen, waren noch immer geschwollen vom Weinen, ihre Wangen bleich vor Erschöpfung. „Ich schätze, du hast es gebraucht.“
„Das stimmt. Und du hast mir nicht das Gefühl gegeben, total bescheuert zu sein.“ Dann ging sie ins Badezimmer.
Dankbar zog sie die verschwitzten Kleider aus. Kurz überlegte sie, sich ein Bad im Whirlpool zu gönnen, entschied sich dann aber doch für die Dusche. Als sie Graces teures Shampoo benutzte, spürte sie schon wieder Tränen in sich aufsteigen. Es duftete so sehr nach Grace.
Aber sie wollte nicht mehr weinen, um genau zu sein, bereute sie ihren Tränenausbruch bereits. Viel hilfreicher war es, praktisch zu denken, zu duschen, etwas zu essen und endlich richtig zu schlafen. Sicher war nicht nur der Weinkrampf daran schuld, dass ihr ein wenig schwindlig war.
Und wenn sie sich etwas erholt hatte, musste sie dringend etwas unternehmen. Es spielte keine Rolle, dass bisher kaum mehr als ein Tag vergangen war. Jede Stunde zählte. Sie musste ihre Welt wieder in Ordnung bringen, dann könnte sie sich auch darüber Gedanken machen, was aus ihr und Jack werden sollte.
Dass sie ihn liebte, daran bestand kein Zweifel. Mit welchem Tempo sie sich in ihn verliebt hatte, verstärkte nur die Intensität ihrer Gefühle. Nie zuvor hatte sie für einen Mann so viel empfunden wie für ihn. Es ging um so viel mehr als nur um Leidenschaft. Hinzu kamen bedingungsloses Vertrauen, tiefer Respekt und das sichere Wissen, dass sie bis ans Lebensende mit ihm zusammen sein wollte.
Außerdem konnte sie ihn verstehen, was er wahrscheinlich nicht ahnte. Sie verstand seine Einsamkeit, den tief sitzenden Schmerz und seinen Stolz. Er war verständnisvoll und zynisch, geduldig und impulsiv, er hatte einen wachen Verstand, war fast ein Poet und auf jeden Fall ein Nonkonformist. Er lebte auf seine eigene Art und Weise, stellte seine eigenen Regeln auf und brach sie, wenn er es für richtig hielt.
Weniger erwartete sie von einem Lebenspartner auch nicht.
Und genau das bereitete ihr Sorgen. Dass sie plötzlich ans Heiraten dachte, an Beständigkeit und daran, eine Familie mit einem Mann zu gründen, der ganz offensichtlich sein halbes Leben lang vor so etwas davongerannt war.
Aber da diese Fantasien gerade erst in ihr erwachten und noch sehr jung waren, konnte sie sie ohne Weiteres im Keim ersticken. Sie hatte ihr eigenes Pub, ihr eigenes Leben, und nur weil sie sich auf einmal verliebt hatte, musste sich noch lange nichts Grundsätzliches ändern.
Das hoffte sie zumindest.
Sie stellte die Dusche aus, trocknete sich ab und cremte sich mit Graces seidiger Körperlotion ein.
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