Der Gefangene
elf Jahr e lang erstinstanzlicher Richter im zweiundzwanzigsten Gerichtsbezirk gewesen, zu dem auch Pontotoc County zählte. Er kannte das Gericht, die Stadt und ihre Anwälte. Im Mai 1971 hatte Richter Seay eine Rede vor der Abschlussklasse der Highschool von Asher gehalten. Einer der siebzehn Schüler war Ron Williamson gewesen. Nach fünfzehn Jahren als Richter hatte Seay wenig für Habeas-Corpus-Haftbeschwerden übrig, die auf seinem Schreibtisch landeten. Das Gesuch in der Sache Williamson erreichte ihn im September 1994, nur wenige Tage vor der Hinrichtung. Er hatte den Verdacht - besser gesagt, die Gewissheit -, dass die Anwälte der Todeskandidaten mit ihren Gesuchen bis zum letzten Moment warteten, damit er und andere Bundesrichter einen Aufschub gewähren mussten, während sie sich mit den Akten befassten. Oft fragte er sich, was der arme Verurteilte durchstehen musste, der in der Todeszelle schwitzte, während sein Anwalt ein Spiel mit dem Feuer trieb.
Eine legitime Anwaltstaktik, das war Richter Seay klar -trotzdem gefiel ihm die Methode nicht. Er hatte ein paarmal einen Aufschub gewährt, aber nie eine Wiederaufnahme eines Verfahrens angeordnet.
Wie immer wurde das Williamson-Gesuch zuerst von Jim Payne gelesen, einem Justizbeamten in der Geschäftsstelle des Bundesgerichts. Payne war für seine konservative Einstellung und seine Abneigung gegen diese Art von Haftbeschwerden bekannt, aber er genoss wegen seiner Fairness hohes Ansehen. Viele Jahre lang hatte er jeden einzelnen Habeas-Corpus-Antrag durchackern und daraufhin prüfen müssen, ob er begründet war. Dies war zwar meistens nicht der Fall, aber immerhin häufig genug, sodass die Lektüre interessant blieb.
Für Jim Payne war diese Arbeit von größter Bedeutung. Wenn er etwas in den umfangreichen Schriftsätzen und Mit-
Schriften übersah, wurde möglicherweise ein Unschuldiger hingerichtet. Janet Chesleys Antrag war so gut geschrieben, dass schon der erste Absatz seine Aufmerksamkeit fand. Als er fertig gelesen hatte, hegte er einige Zweifel daran, dass Ron einen gerechten Prozess bekommen hatte. Janets Argumentation basierte vor allem auf der unzureichenden Verteidigung, Rons Schuldunfähigkeit und der Unzuverlässigkeit der Haaranalyse.
Jim Payne las den Antrag am Abend zu Hause. Als er am nächsten Morgen ins Büro kam, besprach er sich mit Richter Seay und empfahl einen Aufschub. Nach einem langen Gespräch über den Antrag stimmte Seay, der große Stücke auf Payne hielt, zu. Nachdem er dreiundzwanzig Tage lang ständig auf die Uhr gesehen und inbrünstig gebetet hatte, wurde Ron mitgeteilt, seine Hinrichtung sei auf unbestimmte Zeit verschoben worden. Nur noch fünf Tage hatten bis zur Todesspritze gefehlt. Jim Payne gab die Haftbeschwerde an Gail Seward, die Leiterin seiner Geschäftsstelle, weiter, die den Antrag las und ebenfalls zu dem Schluss kam, dass eine gründliche Überprüfung erforderlich war. Dann ging die Sache an eine Justizangestellte namens Vicky Hildebrand, die so neu war, dass ihr sämtliche Fälle zugeschoben wurden, in denen die Todesstrafe verhängt worden war. Vicky war vor ihrer juristischen Ausbildung Sozialarbeiterin gewesen und hatte in Richter Seays gemäßigt konservativer Geschäftsstelle schnell und ohne großes Aufsehen die Rolle des sozialen Gewissens übernommen.
Williamson war ihre erste Haftbeschwerde, bei der es um die Todesstrafe ging. Bereits der erste Absatz des Antrags schlug sie in seinen Bann:
In diesem bizarren Fall geht es um einen Traum, der für Ronald Keith Williamson zum Albtraum wurde. Mr Williamson wurde fast fünf Jahre nach dem Verbrechen und nachdem sein Alibizeuge verstorben war verhaftet. Diese Verhaftung gründet sich fast vollständig auf das als Traum erzählte »Geständnis« des schwer geisteskranken Ron Williamson.
Viclcy las weiter. Bald fielen ihr der Mangel an glaubhaften Beweisen und die planlose Strategie der Verteidigung im Verfahren auf. Als sie fertig war, hegte sie starke Zweifel an Rons Schuld.
Sie fragte sich sofort, ob sie die Nerven für diese Aufgabe hatte. Würde jede Haftbeschwerde so überzeugend sein? Würde sie jedem zum Tode Verurteilten glauben? Sie vertraute sich Jim Payne an, der einen Plan entwarf. Die beiden würden Gail Seward, die politisch eher in der Mitte stand, um ihre Meinung bitten. Vicky verbrachte den ganzen Freitag damit, die umfangreiche Mitschrift dreimal zu kopieren -eine Kopie für jeden der Verschwörer. Alle drei lasen
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