Der Gefangene
Mit der Zeit aber gewann Mayer das Vertrauen der meisten Beteiligten. Er machte ein ausführliches Interview mit Bill Peterson. Er durfte bei Besprechungen mit den Verteidigern dabei sein. Er verbrachte Stunden mit den ermittelnden Polizisten. Bei einem Treffen sprach Dennis Smith über die Belastung, in einer Kleinstadt zwei ungelöste Mordfälle zu haben. Er zog ein Foto von Debbie Carter hervor und zeigte es Mayer. »Wir wissen, dass Ron Williamson sie getötet hat«, sagte Smith. »Wir können es nur nicht beweisen.«
Zu Beginn seiner Recherchen ging Mayer zu fünfzig Prozent davon aus, dass die jungen Männer schuldig waren. Doch bald war er entsetzt sowohl über das Vorgehen von Smith und Rogers als auch über das gesamte Verfahren gegen Ward und Fontenot. Es gab keine anderen Beweise außer den Geständnissen. Und so schockierend sie auch waren - sie waren so voller Widersprüche, dass man ihnen keinen Glauben schenken konnte.
Nichtsdestotrotz bemühte sich Mayer um ein ausgewogenes Bild von Verbrechen und Verfahren. Sein Buch, The
Dreams of Ada, erschien im April 1987 im Viking Verlag und wurde von der Stadt mit großer Aufmerksamkeit bedacht.
Die Reaktion darauf war ebenso prompt wie vorhersehbar. Manche lehnten das Buch ab, weil der Autor darin zu freundlich mit der Ward-Familie umgegangen sei. Andere waren von der Schuld der jungen Männer überzeugt - schließlich hatten sie gestanden und ließen sich auch durch das Buch nicht umstimmen.
Es gab aber auch die weitverbreitete Meinung, dass Polizei und Staatsanwaltschaft den Fall verpfuscht und die falschen Männer hinter Gitter gebracht hätten und die wahren Mörder immer noch auf freiem Fuß seien.
Getroffen von der Kritik - ein Kleinstadtjurist erlebt selten, dass ein Buch über einen seiner Fälle geschrieben wird, noch dazu ein wenig schmeichelhaftes -, schlug Bezirksstaatsanwalt Bill Peterson im Fall Carter eine härtere Gangart an. Er hatte etwas zu beweisen.
Das arme Mädchen war seit über vier Jahren tot. Die Ermittlungen traten auf der Stelle. Es war höchste Zeit, endlich einen Schuldigen zu überführen.
Peterson und die Polizei hielten Ron Williamson schon seit Jahren für den Täter. Vielleicht war Dennis Fritz mit in die Sache verwickelt, vielleicht auch nicht. Sie wussten, dass Williamson am fraglichen Abend in Carters Wohnung gewesen war. Beweise hatten sie keine, aber ein untrügliches Bauchgefühl.
Ron war aus dem Gefängnis entlassen worden und wieder in Ada. Als seine Mutter 1985 gestorben war, hatte er im Gefängnis gesessen und auf eine Anhörung zur Feststellung seiner Schuldfähigkeit gewartet, zwei weitere Jahre Haft in Aussicht. Annette und Renee hatten schweren Herzens das kleine Haus verkauft, in dem sie aufgewachsen waren. Als Ron im Oktober 1986 freikam, hatte er mithin kein Zuhause mehr. Er zog bei Annette, deren Mann und Sohn ein und gab sich ein paar Tage lang redlich Mühe, sich anzupassen. Doch dann brachen seine alten Gewohnheiten wieder durch: nächtliche Mahlzeiten, die er unter großem Getöse zubereitete, nächtelang fernsehen bei voller Lautstärke, rauchen und trinken, den ganzen Tag auf dem Sofa schlafen. Nach etwa einem Monat lagen bei der ganzen Familie die Nerven blank, und Annette bat ihn, auszuziehen.
Die beiden Jahre im Gefängnis hatten nicht dazu beigetragen, dass seine kranke Psyche Besserung erfuhr. Er war in verschiedenen psychiatrischen Einrichtungen gewesen, wo verschiedene Ärzte verschiedene Medikamentencocktails an ihm ausprobierten. Über weite Strecken gab es gar keine Medikation. Für eine Weile ging er in der Masse der Mitinsassen unter, bis irgendwann jemandem sein bizarres Verhalten auffiel. Dann ging's wieder mal in eine neue Klinik.
Zu seiner Entlassung machte das Department of Corrections von Oklahoma - die staatliche Gefängnisbehörde - für Ron einen Termin mit einer Sozialarbeiterin des Mental Health Service in Ada aus. Am 15. Oktober traf er sich mit Norma Walker, die zunächst feststellte, dass er Lithium, Navane und Artane einnahm. Sie fand ihn nett, beherrscht, nur ein wenig sonderbar: »Manchmal starrte er eine Minute lang nur so vor sich hin, ohne irgendwas zu sagen.« Er habe vor, eine Bibelschule zu besuchen und vielleicht sogar Pastor zu werden. Vielleicht werde er auch eine Baufirma gründen. Große Pläne - ein wenig zu groß, fand Norma Walker.
Zwei Wochen lang - er stand nach wie vor unter Medikamenten - hielt er sich an die Termine und machte einen guten
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