Der Gefangene
tun.
Bitte sehen Sie großzügig darüber hinweg, dass die Leiche mitsamt einem Haus angezündet worden sein soll, das schon zehn Monate zuvor abgebrannt wurde. Fernseher wurden hereingefahren, die Lichter gedimmt, die Bänder abgespielt. Als die grausigen Einzelheiten kamen, war Ward und Fontenot der Weg in den Todestrakt sicher.
Chris Ross' Schlussplädoyer - sein erstes in einer Mordsache - war großes Theater. Plastisch schilderte er die blutigen Einzelheiten aus den Videos: Stichwunden, Blut und Eingeweide, die brutale Vergewaltigung und Ermordung einer hübschen jungen Frau und schließlich die schreckliche Verbrennung ihrer Leiche.
Die Geschworenen waren angemessen empört. Nach kurzer Beratung kamen sie zurück. Ihr Verdikt: Beide sind schuldig. Beide verdienen die Todesstrafe. Die Wahrheit sah ganz anders aus. Die Leiche wies nicht eine Stichwunde auf und war auch nicht verbrannt, ganz gleich, was Ward und Fontenot in ihren falschen Geständnissen ausgesagt hatten, ganz gleich, was Bill Peterson und Chris Ross den Geschworenen in glühenden Farben geschildert hatten.
In Wirklichkeit starb Denice Haraway durch einen Kopfschuss. Ihre Überreste wurden im folgenden Januar von einem Jäger gefunden, mitten in einem Wald nahe dem kleinen Ort Gerty in der Hughes County, vierundvierzig Kilometer von Ada entfernt und weitab von allen durchkämmten Gebieten.
Die echte Todesursache hätte alle Beteiligten davon überzeugen müssen, dass sich Ward und Fontenot ihre lächerliche Geschichte tatsächlich ausgedacht hatten und dass sie zum Geständnis genötigt worden waren.
Die echte Todesursache hätte dazu führen müssen, dass die Justizbehörden ihren Irrtum einsehen und mit der Suche nach dem wahren Mörder beginnen. Nichts dergleichen geschah.
Nach dem Prozess - die Leiche war noch nicht gefunden -wartete Tommy darauf, in den Todestrakt nach McAlester verbracht zu werden, ein Hochsicherheitsgefängnis, neunzig Kilometer östlich von Ada. Er war immer noch wie gelähmt von den zurückliegenden Ereignissen. Wie konnte es sein, dass er nun dem Tod durch die Giftspritze ins Auge blickte? Er war ängstlich, verwirrt, deprimiert. Noch ein Jahr zuvor war er ein typischer Twen aus Ada gewesen, dessen Leben sich einzig und allein darum gedreht hatte, wie man an gute Jobs, super Feten und süße Mädchen kam. Die wahren Mörder sind auf freiem Fuß, dachte er immer wieder, und lachen uns aus. Lachen über die Polizei. Er fragte sich, ob sie so dreist gewesen waren, seinen Prozess zu verfolgen. Warum nicht? Es konnte ihnen nichts passieren.
Eines Tages bekam er Besuch von zwei Beamten des Ada Police Department. Sie waren jetzt seine Freunde, seine Kumpel, und zeigten sich betrübt darüber, dass er nach McAlester musste. Sie verhielten sich ruhig, rücksichtsvoll und höflich - es gab keine Drohungen, kein Gebrüll, keine Flüche, keine Androhung der Todesspritze. Sie wollten nur die Leiche von Denice Haraway finden, deshalb hätten sie einen Deal vorzuschlagen. Wenn Tommy ihnen verrate, wo die Leiche sei, würden sie sich bei Peterson dafür einsetzen, dass die Todesstrafe in eine lebenslange Haftstrafe umgewandelt werde. Sie taten so, als stünde das in ihrer Macht. In Wahrheit hatten sie in diesem Fall nicht das Geringste zu melden.
Tommy wusste ohnehin nicht, wo die Leiche war. Er wiederholte, was er fast ein Jahr lang gesagt hatte - er habe mit dem Verbrechen nichts zu tun. Selbst im Angesicht des Todes konnte Tommy Ward den Polizisten nicht geben, was sie wollten. Nicht lange nach Wards und Fontenots Verhaftung war ihre Geschichte Robert Mayer, einem geachteten New Yorker Journalisten, der seinerzeit im Südwesten der Staaten lebte, zu Ohren gekommen. Er hatte sie von seiner Freundin gehört, deren Bruder mit einer von Tommy Wards Schwestern verheiratet war.
Mayer war fasziniert von dem Traum-Geständnis und seinen irrwitzigen Konsequenzen. Warum, überlegte er, sollte jemand ein schreckliches Verbrechen gestehen, dann aber das Geständnis mit Lügen garnieren? Er fuhr nach Ada und begann zu recherchieren. Während des gesamten langen Vorverfahrens und während des Prozesses sah sich Mayer alles gewissenhaft an - die Stadt und ihre Bewohner, das Verbrechen, die Polizei, die Staatsanwaltschaft und vor allem Tommy Ward und Karl Fontenot.
Ada beäugte ihn aufmerksam. Es kam selten vor, dass ein echter Autor zu ihnen kam und seine Nase überall hineinsteckte. Wer wusste schon, was er über sie schreiben würde?
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