Der Gefangene
Mordes angeklagte Mann sein Onkel war. Die Emotionen der Klasse rich- teten sich gegen die beiden Männer. Annette ging am nächsten Morgen in die Schule, um mit dem Lehrer zu reden. Er entschuldigte sich überschwänglich und versprach, bei Diskussionen im Unterricht in Zukunft auf mehr Objektivität zu achten. Renee und Gary Simmons lebten in Chickasha, rund eine Stunde entfernt, und durch die räumliche Distanz waren sie nicht ganz so stark betroffen. Annette aber war nie aus Ada weggezogen, und obwohl sie jetzt am liebsten alles hätte stehen und liegen lassen, musste sie ausharren, um ihren kleinen Bruder zu unterstützen.
Am Sonntag, dem 10. Mai, brachte die Ada Evening News einen Aufmacher über die Verhaftungen mit einem Foto von Debbie Carter. Die Einzelheiten stammten überwiegend von Bill Peterson. Er bestätigte, dass der Leichnam exhumiert worden sei und der rätselhafte Abdruck in Wahrheit von dem Opfer stamme. Fritz und Williamson seien schon seit über einem Jahr verdächtig, führte er aus, ohne allerdings zu erklären, warum.
Im Hinblick auf die Ermittlungen sagte er: »Vor etwa sechs Monaten waren wir in diesem Fall mit unserem Latein am Ende und mussten neu überlegen, wie wir das Ganze angehen.«
Besonders hervorgehoben wurde die Tatsache, dass das FBI in den Fall eingeschaltet worden war. Doch dass die Polizei von Ada die Unterstützung der nationalen Behörde schon zwei Jahre zuvor angefordert und das FBI die Beweise analysiert und ein psychologisches Profil des Mörders erstellt hatte, verriet Peterson der Zeitung nicht. Am nächsten Tag gab es einen weiteren Aufmacher zum Thema, diesmal mit Verbrecherfotos von Ron und Dennis, auf denen sie so widerwärtig und gemein aussahen, dass sie allein schon für einen Schuldspruch gereicht hätten. Der Artikel führte die Details aus der Sonntagsausgabe noch mal auf, insbesondere dass die beiden Männer wegen Mordes, Vergewaltigung und sexueller Nötigung mit Gegenständen oder Körperteilen verhaftet und angeklagt worden seien. Eigenartigerweise wollten sich die »offiziellen Kreise« nicht dazu äußern, ob die beiden Männer Aussagen zum Tathergang gemacht hatten oder nicht. Offensichtlich hatten sich die Reporter von Ada schon so an Geständnisse gewöhnt, dass sie sie im Rahmen von strafrechtlichen Ermittlungen für selbstverständlich hielten.
Die Ermittler behielten Ron Williamsons erstes Traum-Geständnis für sich, dafür gaben sie die beeidete Erklärung bekannt, die die Grundlage für die Haftbefehle bildete. Der Zeitungsartikel zitierte daraus:
»Die Scham- und Kopfhaare, die auf Miss Carters Körper und in ihrem Bett aufgefunden wurden, stimmen mikroskopisch gesehen mit denen von Ronald Keith Williamson und Dennis Fritz überein.«
Außerdem hatten beide Männer lange Vorstrafenregister. Rons Liste enthielt fünfzehn Vergehen - zum Beispiel Autofahren unter Alkoholeinfluss - sowie das Betrugsdelikt, das ihn ins Gefängnis gebracht hatte. Fritz war zweimal wegen Alkohols/Drogen am Steuer verurteilt worden, und dann gab es noch ein paar Verkehrsdelikte und die alte Marihuanasache. Bill Peterson bestätigte abermals, dass die Leiche exhumiert worden sei, damit der Handabdruck noch einmal überprüft werden konnte, und er entspreche dem des Opfers. Er fügte hinzu, die Männer würden »seit über einem Jahr als Verdächtige in diesem Fall« angesehen.
Am Schluss erinnerte der Artikel die Leser daran, dass:
»Carter durch Erstickung zu Tode kam, weil ihr während der Vergewaltigung ein Waschlappen in den Rachen gestopft worden war«.
Am selben Montag wurde Ron vom Gefängnis die rund fünfzig Schritte über den Rasen zum Gerichtsgebäude geführt, wo er vor Richter John David Miller trat, der die Voruntersuchung leitete. Ron sagte, dass er keinen Rechtsanwalt habe und nicht wisse, ob er sich einen leisten könne. Daraufhin brachte man ihn ins Gefängnis zurück. Ein paar Stunden später will ein Insasse namens Mickey Wayne Harrell gehört haben, wie Ron weinte und immer wieder sagte: »Es tut mir leid, Debbie.« Das wurde sofort an einen Wärter übermittelt. Ron soll Harrell anschließend gefragt haben, ob er ihm folgenden Satz auf den Arm tätowieren könne: »Ron liebt Debbie.«
Von dem aktuellen Verbrechen angeheizt, begann die Gerüchteküche im Gefängnis zu brodeln. Das Denunziantentum, von jeher gang und gäbe hinter Knastmauern, weil die Polizei so gern mitspielt, hatte Hochkonjunktur. Ausspionieren führt am schnellsten in
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