Der Gefangene
Stadt immer wieder auf, und ihm entging nichts von dem, was auf den Fluren des Gerichtsgebäudes getuschelt wurde. Barney hatte sein Augenlicht als Halbwüchsiger in der Highschool verloren, als im Unterricht ein Experiment missglückte. Er verbuchte den tragischen Unfall als kleinen Rückschlag, der ihn aber nicht daran hinderte, die Schule regulär zu beenden. Er schrieb sich an der East Central University in Ada ein. Seine Mutter saß neben ihm im Hörsaal und las für ihn. Nach dem Abschluss ging er nach Norman, um an der University of Oklahoma Jura zu studieren, auch hier mithülfe seiner Mutter. Er krönte das Studium mit einer Promotion, bestand die Zulassungsprüfung, kehrte nach Ada zurück und stellte sich der Wahl zum Staatsanwalt. Er gewann und war mehrere Jahre als höchster Anklagevertreter der County tätig. Mitte der Fünfzigerjahre eröffnete er eine Anwaltskanzlei und spezialisierte sich auf Strafrecht. Bald schon galt er als Mann, der sich leidenschaftlich für seine Mandanten einsetzte. Mit seinem blitzschnellen Verstand erkannte Barney sofort jede Schwäche in der Beweisführung der Staatsanwaltschaft und nahm gekonnt die Zeugen der Anklage in die Mangel. Er konnte erbarmungslose Kreuzverhöre führen und liebte rasante Wortgefechte. Einmal schwang Barney sogar die Faust gegen einen Kollegen. Bei der legendär gewordenen Verhandlung hatte er mit David Morris zu tun. Sie waren dabei, Beweise vorzutragen. Beide waren frustriert, die Lage war angespannt. Da machte Morris den Fehler, zu sagen: »Schauen Sie, Richter, das sieht doch sogar ein Blinder.« Ward machte einen Ausfallschritt auf ihn zu - oder zumindest in seine Richtung - und holte mit der Rechten zu einem Rundumschlag aus, der Morris knapp verfehlte. Die Ruhe im Saal wurde wieder hergestellt. Morris entschuldigte sich für seine verbale Entgleisung, blieb aber fürderhin auf Distanz.
Jeder kannte Barney Ward, und er wurde im Gericht oft mit seiner treuen Assistentin Linda gesehen, die für ihn las und Notizen machte. Hin und wieder hatte er auch einen Blindenhund dabei, doch er bevorzugte die Hilfe der jungen Dame. Er war freundlich zu jedermann und vergaß nie eine Stimme. Die Anwaltskollegen wählten ihn zum Vorsitzenden der Rechtsanwaltskammer, und das nicht aus Mitleid. Barney Ward war so beliebt, dass man ihn sogar einlud, Mitglied eines Pokerklubs zu werden. Er zückte ein Kartenspiel für Blinde, erklärte, dass nur er geben könne, und strich bald sämtliche Jetons ein. Die anderen Spieler beschlossen, dass es wohl das Beste wäre, wenn Barney nur spielte und nicht gab. Daraufhin ließen seine Gewinne etwas nach.
Die Kollegen luden Barney jedes Jahr zur Rotwildjagd ein, einem einwöchigen Männerausflug mit jeder Menge Bourbon, Poker, schmutzigen Witzen, kräftigen Eintöpfen und -sofern die Zeit es zuließ - ein wenig Pirsch. Es war schon immer Barneys Traum gewesen, einen Hirsch zu schießen, und einmal im Wald fanden seine Freunde einen hübschen Bock für ihn. Sie manövrierten ihn in die richtige Position, reichten ihm die Waffe, legten sie sorgfältig an, zielten und flüsterten dann: »Feuer.« Barney schoss. Und obwohl er das Tier weit verfehlt hatte, behaupteten seine Freunde, es sei nur knapp dem Tod entronnen. Barney erzählte die Geschichte noch Jahre danach. Wie viele eingefleischte Trinker musste er dem Alkohol irgendwann gänzlich abschwören. Zu der Zeit hatte er gerade einen Blindenhund, der daraufhin ersetzt werden musste, weil er es nicht lassen konnte, Ward zum Whiskeyladen zu führen. Offensichtlich war er sehr oft dorthin gegangen, denn es wird immer noch kolportiert, dass der Laden schließen musste, nachdem Barney trocken war.
Geldverdienen machte ihm Spaß, und er hatte wenig Geduld mit Mandanten, die nicht zahlen konnten. Sein Motto lautete: »Unschuldig, bis der Bankrott eintritt.« Mitte der Achtzigerjahre aber hatte Barney seine besten Jahre bereits hinter sich. Manchmal verpasste er in Verhandlungen den Anschluss, weil er eingenickt war. Er trug dicke Brillengläser, die einen Großteil seines Gesichts verdeckten, und Richter und Kollegen konnten nicht sehen, ob er zuhörte oder schlief. Die Gegner reagierten schnell und verständigten sich - im Flüsterton, weil Barney wie ein Luchs hörte - darauf, die Sitzung oder die Anhörung auf den Nachmittag zu vertagen, weil er da sein Mittagschläfchen zu halten pflegte. Eine Verlegung auf fünfzehn Uhr erhöhte die Chancen, Barney Ward zu schlagen,
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