Der Gefangene
die Freiheit oder zumindest zu einer Verkürzung der Haft: Man muss nur einen ausgewiesenen Verdächtigen bei einem Geständnis oder Teilgeständnis belauschen - man kommt auch damit durch, wenn man das einfach behauptet - und die Information dem Staatsanwalt übermitteln. Als Gegenleistung reduziert dieser das Strafmaß. In den meisten Gefängnissen hält sich das Denunzieren in Grenzen, weil die Verräter die Rache der Mitinsassen fürchten. In Ada allerdings ist es weit verbreitet, weil es so gut funktioniert. Zwei Tage später wurde Ron erneut ins Gericht gebracht, damit geklärt werden konnte, wie seine Prozessvertretung aussehen sollte. Aber sein Erscheinen vor Richter John David Miller verlief alles andere als glücklich. Noch immer unmedikamentiert, war er laut und aggressiv und fing sofort an zu schreien: »Ich habe diesen Mord nicht begangen! Ich hab's verdammt satt, hier im Knast zu sitzen. Es tut mir leid für die Familie, aber ...«
Richter Miller versuchte, ihn in die Schranken zu weisen, doch Ron wollte reden. »Ich habe sie nicht umgebracht. Ich weiß nicht, wer sie umgebracht hat. Meine Mutter hat damals noch gelebt, und sie wusste, wo ich war.«
Richter Miller versuchte, Ron zu erklären, dass die Voruntersuchung nicht dazu gedacht war, dass Angeklagte sich zu ihrem Fall äußerten, aber Ron machte weiter. »Ich will, dass die Anklage fallen gelassen wird«, sagte er immer wieder. »Das ist lächerlich.«
Richter Miller fragte ihn, ob er verstehe, welche Anklage gegen ihn erhoben werde, und Ron erwiderte: »Ich bin unschuldig, war nie mit ihr zusammen, bin nie mit ihr Auto gefahren.«
Während ihm seine Rechte fürs Protokoll verlesen wurden, fuhr Ron mit seinen Klagen fort. »Dreimal war ich im Gefängnis, und jedes Mal haben sie versucht, mir diesen Mord anzuhängen.«
Als der Name Dennis Fritz fiel, meldete sich Ron wieder zu Wort: »Dieser Typ hatte nichts damit zu tun. War damals ein Freund von mir. Der ging nicht ins Coachlight.« Der Richter ließ schließlich protokollieren, dass sich der Angeklagte nicht schuldig bekenne, und Ron wurde unter erbittertem Fluchen abgeführt. Annette sah ihm leise weinend nach.
Sie kam jeden Tag ins Gefängnis, manchmal sogar zweimal am Tag, wenn die Wärter es zuließen. Sie kannte die meisten von ihnen, und alle kannten Ronnie. Häufig wurden die Regeln ein wenig gebeugt, um ihr noch mehr Besuche zu ermöglichen. Ron war nervös, bekam immer noch keine Medikamente und brauchte dringend professionelle Hilfe. Dass man ihn für ein Verbrechen einsperren wollte, das er nicht begangen hatte, machte ihn wütend und verbittert. Außerdem fühlte er sich gedemütigt. Viereinhalb Jahre lang hatte er mit dem Verdacht gelebt, einen schrecklichen Mord begangen zu haben. Und der Verdacht allein war schon schlimm genug. Ada - das war seine Heimatstadt, das waren seine Leute, seine früheren und heutigen Freunde, die Gemeindemitglieder, die ihn aus der Kirche kannten, seine Fans, die ihn als großartigen Sportler in Erinnerung hatten. Das Getuschel und die Blicke waren schmerzhaft, aber er hatte sie jahrelang ertragen. Er war unschuldig, und die Wahrheit - sofern die Polizei sie je herausfand - würde seinen Namen reinwaschen. Doch dass er nun unvermittelt verhaftet und ins Gefängnis gesteckt worden war und auch noch das eigene Verbrecherfoto auf der Titelseite der Zeitung finden musste - das gab ihm den Rest.
Außerdem war er nicht sicher, ob er Debbie Carter begegnet war.
In einer Gefängniszelle in Kansas City wartete Dennis Fritz auf das Überstellungsverfahren, das ihn nach Ada zurückbringen sollte, und haderte mit seiner absurden Verhaftung. Mord! Seit Jahren versuchte er, den gewaltsamen Tod seiner Frau Mary zu verkraften, oft hatte er sich selbst als Opfer gefühlt.
Mord! Er hatte niemals jemandem körperliche Gewalt angetan. Er war klein, schmal gebaut und hatte nichts übrig für Prügeleien und Gewalt. Ja, er war oft in Kneipen gewesen, wo es zum Teil recht deftig zuging. Aber er hatte es immer geschafft, sich zu verkrümeln, ehe die Fäuste flogen. Ron Williamson war zwar nicht der Typ, der eine Schlägerei anzettelte, dafür stürzte er sich gern mitten hinein. Ganz im Gegensatz zu Dennis. Dass er verdächtig war, lag einzig und allein daran, dass er mit Ron befreundet gewesen war.
Dennis Fritz schrieb einen langen Leserbrief an die Ada Eveninß News, in dem er darlegte, warum er sich gegen seine Überstellung nach Oklahoma wehrte. Er erläuterte,
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