Der gefrorene Rabbi
kritzelte er auf Packpapier, das er in Regalnischen ausbreitete, improvisierte Berechnungen und zeichnete Entwürfe für Verbesserungen der Fabrik. Dazu gehörten Pläne für einen kettengezogenen Schmelztank, einen voll verrohrten Kompressor und wassergekühlten Kondensator und eine automatische Förderanlage, von der er bereits ein maßstabsgetreues Modell angefertigt hatte. Wenn er nicht an neuartigen Verbesserungen arbeitete, wandte er sich theoretischeren Projekten zu; denn obwohl er davon abgerückt war, beschäftigte er sich wieder mit der Möglichkeit, mittels Technologie den Fall des Menschen rückgängig zu machen.
Zudem freute es ihn, dass er jetzt nahe bei dem gefrorenen Rabbi wohnte, der sein eigenes Zimmer im Eishaus hatte. Tatsächlich war er an seinem ursprünglichen Ort untergebracht, dem verborgenen Raum, den die Gebirtigs für Schwarzmarktgüter reserviert und als Sanctum bezeichnet hatten. Nur jetzt hatte ihn Rabbi Elieser ben Zephir ganz für sich, da Schmerl dafür sorgte, dass er hinter Schloss und Riegel in seinem Verlies blieb. Doch spätnachts sperrte Schmerl in dem Schafpelz, den er aufgrund der Kälte ständig trug, das Sanctum auf und setzte sich wie ein Trauernder auf eine Kiste neben den Rabbi, der ihm während seiner einsamen Monate Gesellschaft geleistet hatte. Diese Wachen beim geöffneten Sarg, dessen Inhalt im Schein einer Naphthalaterne schimmerte, weckten einen Besitzerstolz in dem Erfinder, als wäre der rebbe ein Geschenk von Max, das er auf dessen Wunsch hin jedoch sogleich zurückgegeben hätte.
Aber wenn er etwas bedauerte, dann war es die Abwesenheit seines Partners, der die Fabrik seit ihrer Eröffnung noch nicht besucht hatte. Sosehr er auch in seiner schweren Arbeit aufging, manchmal fragte Schmerl sich doch, ob er sich mit all diesen Tätigkeiten davon ablenken wollte, dass er Max vermisste. Er vermisste es, dem jungerman laut die Bitten um Mitgefühl, wenn nicht gar Liebe in der Rubrik »bintl brief« des Forverts vorzulesen; er vermisste es, die absonderlichen Träume zu erzählen, die Max nicht hören wollte und die ihn dazu veranlassten, sich die Ohren zuzuhalten, auch wenn er später verlegen selbst von dem einen oder anderen Inkubus berichtete, der ihn heimgesucht hatte. Er vermisste - was vermisste er eigentlich nicht? - die Augen seines Partners, wenn sich in ihren schwarzen Pupillen das Saftgrün einer Gasflamme spiegelte. Aber das war alles Unfug. Dann malte sich Schmerl die Gesichtszüge seines Freundes aus - die Rosenlippen, die edel geschwungene Nase, den Hauch eines spitzen Haaransatzes über der bleichen Stirn -, um etwas daran auszusetzen, doch immer wieder flossen sie in makelloser Symmetrie zusammen. Er wollte das rhythmische Schnarchen und die leisen Fürze hassen, die die anmutige Gestalt in vielen Nächten neben ihm von sich gegeben hatte.
Denn im Grunde waren seine Gefühle für den jungerman ungehörig; Männer empfanden keine derart tiefe Zuneigung zueinander. Natürlich, da waren David und Jonathan, Hillel und Schammai - er durchstöberte die Tradition nach anderen Beispielen; ja, das Komikerpaar Weber & Fields gab es auch noch. Aber das Problem war: Schmerl vermochte die Sehnsucht nach seinem Freund nicht von seinen niederen Instinkten zu trennen, von Fantasien über Damen, die ihn in jüngster Zeit bedrängten. Denn offenbar hatte er Bedürfnisse, die schon fast den Grad der Besessenheit erreicht hatten und womöglich sogar ein Eingreifen der nafkeß an der Allen Street erforderlich machten, um sich von dem Druck zu befreien. Das Gesetz, das er nur noch teilweise einhielt, verbot ausdrücklich den Umgang mit Prostituierten, aber »a minheg brecht a din« hieß das Sprichwort: »Ein Brauch ist stärker als ein Gesetz.« Wie auch immer, Schmerl hatte ein Alter erreicht, in dem die jungen Männer von Schpinsk bereits verheiratete Haushaltsvorstände waren und am schabeß die Freuden des Beischlafs genossen, während er noch keine Frau im wahren Sinn erkannt hatte. So wiegte er sich auf der Kiste im Sanctum des Ice Castle und wandte sich dem morschen Sarg zu, als würde er erwarten, dass der Heilige aus seinem Eisblock schlüpfte und ihm seinen Rat anbot.
Hoch oben im fünften Stock eines Wohnhauses im Beaux-Arts-Stil mit Blick auf den Hudson, der gesprenkelt war mit dahinjagenden Segelsicheln, hielt sich Max in mancher Hinsicht für so gut wie tot. Nachdem er dem Eismenschen im fernen Lodz eine letzte, als Vermächtnis gekennzeichnete
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