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Der gefrorene Rabbi

Der gefrorene Rabbi

Titel: Der gefrorene Rabbi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Stern
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und Zwischendeck satt und machten sich in verschiedene Richtungen davon, um ihr Glück zu suchen. Und wer hätte es ihnen verdenken wollen? Nur die hässliche Schinde Esther, die von meiner Mama unter ihre Fittiche genommen wurde wie eine kleine Schwester, blieb zu Hause, um ihre gebrechlichen Eltern zu pflegen. Aber so verwirrt sie auch waren - Todrus klagte über anhaltende Seekrankheit, Chana Bindl über Heimsuchungen durch den Geist ihrer Schwiegermutter -, ihre Besuche stachelten meine Rastlosigkeit an, und sei es nur wegen des Fischgeruchs, der an ihren Kleidern hing und von fernen Ländern erzählte.
    Ich wurde zusammen mit den Söhnen von Textilherstellern und Warenhausmagnaten auf eine örtliche Schule geschickt. Sie waren ein hochnäsiger, x-beiniger Haufen in ihren knapp sitzenden Sakkos und Reithosen, von ihren Familien auserkoren für höhere Berufe, und ich hasste sie von Anfang an. Es war nicht unbedingt so, dass ich Schwächere schikanierte, da die Jungen, auf die ich losging, normalerweise größer waren als ich, aber ich kam schnell in den Ruf, unverbesserlich zu sein. Oft wurde ich mit Briefen an meine Eltern nach Hause geschickt, die ich sofort verschwinden ließ, und wegen meines »schlechten Betragens« bestraft. Es waren läppische Strafen - ich wurde in der Garderobe eingeschlossen oder bekam ein paar halbherzige Schläge -, die mich nur aufsässiger machten. Als meine Lehrerinnen, trotz imposanter Brüste und Hinterpartie nervöse Damen, mein Verhalten als Verschwendung eines wachen Verstands tadelten, revanchierte ich mich damit, dass ich gar nichts mehr lernte. In der Schule gab es auch Mädchen, manche von ihnen rosig und anmutig, doch aus Gründen, über die ich mir keine Rechenschaft ablegte, missgönnte ich ihnen ihre Schönheit, als hätten sie sie nur kultiviert, um mich damit zu necken. Häufig schwänzte ich den Unterricht und durchstreifte die Straßen auf der Suche nach Unvorhersehbarem, das mir in meinem Viertel nicht begegnen wollte. Im Sommer meines sechzehnten Lebensjahrs lud mich mein Papa, anscheinend, damit ich keinen Unfug mehr anstellen konnte, zur Arbeit in seinem Eishaus an der Canal Street ein.
    Als erste Produktionsstätte für industriell hergestelltes Eis war Karp’s Ice Castle einmal der Stolz des Gettos gewesen. Doch seither waren überall in der Stadt Konkurrenzunternehmen aus dem Boden geschossen wie Pilze, und das Erscheinen des Kühlschranks (fünf Dollar Anzahlung und zehn pro Monat) hatte ihre Daseinsberechtigung generell vermindert. Eine Zeit lang hatte Karp versucht, den Verkauf von Eis mit einem Nebensortiment gefrorener Puddings zu ergänzen und dafür eigens eine mit Servomotor betriebene Eismaschine gebaut. Doch Karp’s Frozen Delight, das in seiner Form der Fackel der Freiheitsstatue nachempfunden war, konnte nie an dem Beinahemonopol der Good-Humor-Wagen kratzen, die durch die ganze Stadt fuhren. Allerdings waren viele Familien weiter auf ihre altmodischen Eiskästen angewiesen, und obwohl die Flotte zugunsten einer Ausdehnung der Lagerkapazitäten im Ice Castle verkleinert wurde, blieben Karps Lieferwagen ein Wahrzeichen auf den überfüllten Straßen der East Side. So hatte Papas Fabrik zwar zu kämpfen, um sich in der Branche zu halten, aber es reichte zum Überleben. Nicht dass es mich auch nur die Bohne interessiert hätte, ob das Unternehmen florierte oder baden ging, und ich war auch nicht besonders scharf darauf, für meinen Papa zu arbeiten. Für mich war es einfach eine Chance, mich in etwas zu stürzen, das zumindest dem wahren Leben nahekam.
    Wie ich hörte, hatte sich der alte Tenth Ward seit der Greenhorn-Zeit meiner Eltern stark verändert. Zum einen war die Lumpenindustrie mit zunehmendem Wohlstand weiter nach Norden gezogen, zum anderen beherrschten die Manufakturen nicht mehr das Erscheinungsbild des Viertels. Viele der ursprünglichen Einwanderer hatten sich von Handkarren und Nähmaschinen befreit und waren zu Ladenverkäufern, Büroschreibern, Buchhaltern und Ähnlichem aufgestiegen, während die verbliebenen Fabrikarbeiter dank der stärker werdenden Gewerkschaften ebenfalls in den Genuss besserer Lebensbedingungen kamen. Die Kinder ließen das Getto ganz hinter sich - sie zogen über den Fluss nach Williamsburg, nach Harlem und in die Bronx -, und da der Staat inzwischen genug Ausländer hatte und der Einwanderung einen Riegel vorgeschoben hatte, hatte man im Viertel jetzt mehr Luft zum Atmen. Damit will ich nicht behaupten,

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