Der gefrorene Rabbi
dass die Lower East Side eine einladende Gegend wurde; es gab immer noch reichlich Elend und Krankheit, und die Prohibition hatte alle, auch die Juden, in die Fänge des Alkohols getrieben. Aber bevor die Leute von Naf dem Scherzer im Eishaus antanzten, um meinen Vater zu bearbeiten, hatte ich geglaubt, dass die Unterwelt nur im Film existierte. Es war eine aufmunternde Entdeckung für mich, dass Juden auch rücksichtslos sein konnten.
Seit den Anfängen des Castle waren Papas Werkleiter treue Gewerkschafter gewesen, beginnend mit dem (inzwischen verstorbenen) Elihu Levine, der die Tradition des Widerstands gegen die Überredungskünste des örtlichen Syndikats begründet hatte. Aber die Glanzzeit der Eisfabrik war mit einer Phase zusammengefallen, in der Yoshke Nigger, der Bandenkönig, seine Energien aus dem Erpressungsgeschäft abgezogen hatte, um sie in den Dienst der Tammany Hall zu stellen. Dann kam der Volstead Act, und auf die Tammany Hall war gepfiffen: Jetzt stand Schnapsschmuggel auf der Tagesordnung. Doch Yoshkes Nachfolger, Naf der Scherzer, eigentlich Naftali Kupferman, war ein ehrgeizigerer Krimineller mit einem Hang zur breiteren Auffächerung der Aktivitäten. Nach dem unnatürlichen Tod seines Mentors (mittels Zementgaloschen) beschloss er die Wiederbelebung alter Beziehungen und schickte seine Gorillas zu einer Kollekte bei den Unternehmen, die Yoshke in der Vergangenheit beehrt hatte. Karp’s Ice Castle wehrte sich jedoch weiter standhaft gegen solche Bedrohungen, während Karp selbst seinen Luftschlössern nachhing und keine Ahnung von den neuesten Schutzgeldforderungen hatte.
Mein Papa. Obwohl er im obersten Stockwerk des Ice Castle ein Büro neben dem des Werkleiters hatte, das mit einem pneumatischen Rohrpostsystem ausgestattet war, war er dort nur selten aufzufinden, weil er sich meistens in seinem sogenannten Laboratorium aufhielt, um dort »Experimente« durchzuführen. Sicher musste man ihm bestimmte technische Innovationen zugutehalten, deren Ergebnisse in die Ausstattung der Fabrikhalle eingegangen waren, doch seine Beiträge zur materiellen Welt waren eher zufälliger Natur, denn die materielle Welt war ein Ort, den er nur wegen seiner Familie besuchte. Falls sie ihm überhaupt Beachtung schenkten, brachten seine Angestellten ihrem nominellen Chef etwa so viel Respekt entgegen wie einem heiligen Irren.
Nur einmal während meiner Zeit im Castle, wo er oft an mir vorbeilief, ohne Notiz von mir zu nehmen (wie Lon Chaney in Das verbotene Zimmer ), schleifte er mich in seinen Kühlraum, um mir sein neuestes Vorhaben zu erklären. In dem stickigen Zimmer konkurrierten unterschiedliche Gerüche miteinander: Schwefel, Ozon, Schweiß. In den Regalen lagen Gegenstände, die aus dem Mittelalter zu stammen schienen, Seite an Seite mit aktuellsten technologischen Geräten: ein Glasofen mit einem leuchtenden Rückstand neben einem knisternden Transformator, Kathoden und Dioden zwischen Gefäßen mit Ätzkalk, Teufelsdreck und Drachenblut. Hebräische Schriften von Autoren mit Namen wie Abraham Python lagen offen auf Artikeln über Drehstrominduktionsmotoren. In der Ecke stand die Pritsche, auf der Papa gelegentlich ein Nickerchen machte und manchmal sogar die Nacht verbrachte.
Das Projekt, mit dem er gerade beschäftigt war, sah mit seinen Flaschenzügen und zinklegierten Zahnrädern aus wie eine Vergnügungsattraktion auf einem Jahrmarkt.
»Wenn fertig, wird nachmachen meine Maschine von der Geburt der Welt den Knall.« Die Augen hinter der Hornbrille, die er seit einiger Zeit trug, waren feucht. Weiter erklärte er, dass die erwähnte Explosion durch die Unbeständigkeit des göttlichen Lichts in den Gefäßen entstanden war, die die ursprüngliche Schöpfung enthielten. Warum er ausgerechnet diese Nachahmung Gottes zuwege bringen wollte, blieb ein Rätsel, doch wenn seine früheren Erfindungen (oft entgegen seiner Absicht) einen gewissen praktischen Nutzen gehabt hatten, sollte dieses jeder Zweckmäßigkeit entbehren. Natürlich war er plemplem, mein Papa. Offiziell war er zwar der Direktor des Unternehmens, aber in Wirklichkeit war es Mama, die die Bücher führte, die Perlen ihres Abakus zählte und das Ice Castle von der Wohnung in der West Side aus lenkte.
Einmal abgesehen von Papas meschugoim arbeitete ich eigentlich ganz gerne im Eishaus, denn körperliche Plackerei sagte mir zu. Wenn ich Salatkisten herumwarf oder riesige Wolfsbarsche über den sägemehlbestreuten Boden schleifte,
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