Der gefrorene Rabbi
gewaltig gegen den Strich. Allerdings hatte ich eine Schwäche für Raoul Walshs Dreiakter, in denen harte Kerle aus der Bowery mit den Cops um die Vorherrschaft in der Innenstadt kämpfen. Ich habe einige der größten Attraktionen der Zeit miterlebt: Shipwreck Kelly, der auf einem Fahnenmast sitzend über dem Hippodrome schwankte; Harry Houdini, der sich zwanzig Stockwerke über dem Times Square an den Fersen hängend aus einer Zwangsjacke befreite. Doch all das steigerte nur meinen Wunsch, hier auf Erden eigene Großtaten zu vollbringen.
An hohen Feiertagen nahmen mich Mama und Papa mit zur Greek Revival Synagogue an der West End Avenue, wo ein Rabbi in ekklesiastischer Robe und Zylinder Quatsch predigte. Zähneknirschend hörte ich, wie mir mein Papa zur Beruhigung zuflüsterte, dass ich mich von dem ermüdenden Ritual nicht täuschen lassen sollte: Oben im Speicher versteckten sich Kreaturen: Golems und kapuljuschniklim.
»Du hast doch gesagt, dass die Juden dieses ganze Zeug in Europa zurückgelassen haben«, protestierte ich, aber er erklärte mir, dass es die Wesen waren, »woß sich haben versteckt in dem Frachtraum von den Hamburg-Amerika-Dampfern«.
In meiner Kindheit war ich, soweit ich mich erinnern kann, nur einmal im alten Einwandererviertel. Das war, als mein Vater mit mir im oberen Stock eines Busses eine Fahrt zur Eisfabrik an der Canal Street machte, wo er mir den ganzen Betrieb zeigte. Er führte mich auch in einen ansonsten leeren Kühlraum mit einem aufgebockten Zedernholzsarg, in dem ein alter Mann in einem Eisblock lag. Sowohl das Unternehmen als auch die betriebsame Gegend fesselten mich, aber der Alte beeindruckte mich so wenig, dass ich ihn nach einer Weile für einen Traum hielt.
Sie waren schon ein merkwürdiges Paar, meine Eltern: meine Mama mit ihrem porzellanweißen Teint und dem blauschwarz wallenden Haar, das sie aus Eitelkeit oder Gleichgültigkeit nicht nach der verbreiteten Pagenkopfmode trug; Papa mit seinem Hahnenkammschopf und dem Kamelhöcker, seinen hirnrissigen Ideen und dem geronnenen Akzent aus der alten Heimat, den er nie loswurde. Manchmal hasste ich ihn dafür, dass er ein Krüppel war, oder vielmehr dafür, dass er seine Krüppelhaftigkeit nicht bemerkte und sich nicht entsprechend benahm. Ich habe nie verstanden, wie meine Mama diesen Kerl so bewundern konnte - seine bloße Gegenwart hätte sie doch verlegen machen müssen! Oder hielt sie ihn für das Gegenstück zu ihrer Schönheit? Nicht dass sie je davon Notiz zu nehmen schien, dass sich die Männer nach ihr umdrehten.
Von Anfang an waren sie völlig vernarrt in mich, und ich hatte immer das Gefühl zu ersticken. Bei dieser bedingungslosen Hingabe konnte einem der pezl schrumpfen wie eine gesalzene Schnecke. Und ihre Zuneigung füreinander war so exklusiv, dass ich im Kreis ihrer Innigkeit wie gefangen war. »Liebt mich nicht so sehr«, bat ich sie, seit ich denken konnte, und als sie nicht damit aufhörten, machte ich mich daran zu beweisen, dass ich es nicht verdiente.
Unsere Wohnung, die mir in meiner Kindheit so riesig vorgekommen war, wurde im Lauf der Zeit immer kleiner, da sie mit schwerem Mobiliar vollgestopft wurde: kammerartige Kleiderschränke und Diwane mit Edelsteintroddeln, Mamas Regale voller Kassenbücher, Papas Journale und mystische Bücher, dazu die Zeitungen in einem Jiddisch, das ich kaum lesen konnte. Dagegen faszinierten mich bald die Schlagzeilen ihrer amerikanischen Pendants: ANARCHISTEN BRENNEN: ELEKTRISCHER STUHL FÜR SACCO UND VANZETTI. Diese Meldungen zeigten mir, dass die Welt voller Dinge war, die in Mamas Budgetmeditationen und in den blödsinnigen Forschungen meines Vaters nicht vorkamen.
Gelegentlich wurde die vollkommene Harmonie gestört durch die Invasion von Papas Verwandten (meine Mutter hatte Brüder, aber niemand wusste etwas von ihrem Aufenthaltsort), zumindest denen, die nicht von den Bolschewisten verführt worden waren oder sich nach ihrer Ankunft in Amerika zerstreut hatten. Genau genommen waren es nur Grandpa Todrus und seine Frau Chana Bindl, beide offensichtlich völlig verstört von ihrer Begegnung mit der Neuen Welt, und ihre Tochter Schinde Esther, die Jüngste einer ansonsten ausschließlich männlichen Nachkommenschaft. Papa hatte die ganze Familie von Russland herübergeholt, sie in einer komfortablen Wohnung in der Nähe untergebracht und mit fabrikneuen Konfektionskleidern ausstaffiert. Aber die jungen Männer hatten die lange Gefangenschaft in schtetl
Weitere Kostenlose Bücher