Der gefrorene Rabbi
das Naftali Kupferman geöffnet hatte. Eine Weile schwebte ich durch die Luft: Wäsche flatterte, Tauben gurrten. Dann rasselte ich mit dem Arsch voraus in die Markise über einem Gemüsestand. Von meinem Gewicht zerriss die durchweichte Leinwand, und ich landete auf dem Karren, der mit einer Lawine reifer Tomaten auseinanderbrach. Ich stürzte auf den Gehsteig und rappelte mich sofort wieder hoch, von Kopf bis Fuß mit breiigem Saft besudelt. Der zottelbärtige Händler fluchte auf mich, die Marktweiber, die die Pampe mit Blut verwechselten, kreischten wie Elstern, aber ich war zu geladen, um mich auch nur zu vergewissern, dass ich mir nichts gebrochen hatte. Mit vorgeschobenem Kinn raste ich wieder die Treppe hinauf, immer drei Stufen auf einmal nehmend; oben angelangt, stürzte ich ins Büro, wo die drei Männer und die Wasserstoffblondine noch um das offene Fenster versammelt waren und hinausgafften. Mit dem Überraschungsmoment auf meiner Seite sprang ich Shtrudel Louie in den Rücken und schaffte es irgendwie, während ich den Griff um Shtrudels Hals anzog, Turtletaubs Wampe mit mehreren schnellen Tritten zu bearbeiten. Im darauf folgenden heftigen Handgemenge teilte ich aus und steckte bestimmt auch ein, aber ich nahm nichts anderes wahr als den Rausch des Kampfes. Irgendwann ging der gelackte Rädelsführer, der das Geschehen vom Fenster aus verfolgt hatte (während die Rezeptionistin unter den Schreibtisch gekrochen war), dazwischen und rief: »Schluss jetzt!« Ohne Widerspruch wichen seine Kumpane zurück, und meine Schwinger sausten ziellos durch die abgestandene Luft. Schließlich bekam ich mit, dass mich meine Gegner - die verrutschten Kleider mit Blut oder Tomatensaft befleckt und die zerbeulten Köpfe schweißgebadet - reichlich verblüfft anstarrten.
»Also, Kid«, meinte Naftali, »ist Eisschleppen dein Wunschberuf, oder suchst du nach was mit besseren Aufstiegsmöglichkeiten?«
Genau auf solch eine Einladung hatte ich gehofft.
Ohne das geringste Bedauern kehrte ich Karp’s Ice Castle den Rücken, dessen Besitzer mich wahrscheinlich gar nicht vermisste, wohingegen meine besorgte Mama jede Gelegenheit nutzte, um mich zu fragen, wo ich meine Tage verbrachte, von den Nächten ganz zu schweigen. Aber ich richtete es so ein, dass sich diese Gelegenheit nur selten ergab, und letztlich mussten sich Schmerl Karp und seine bezaubernde Frau damit abfinden, dass ihr Sohn der elterlichen Kontrolle entwachsen war. Wenn sie überhaupt von meinem Umgang wussten, ließ ich ihnen keine Chance für Einwände - dabei hätte ich sogar ins Feld führen können, dass meine Verbindung zu Naf dem Scherzer im Grunde eine mizwe war, da meine Mitgliedschaft in seiner Organisation den Bandenführer dazu bewegte, das Unternehmen meines Vaters zu verschonen.
Inzwischen hatte auch die Schule wieder begonnen, doch meine Alma Mater sah mich nicht mehr; die Acme Insurance Group und alles, wofür sie stand, wurde zu meiner Akademie und ich zu ihrem eifrigen Kadetten. Von da an war ich ein Fremder in der Upper West Side und kehrte nur noch zum Schlafen in die Wohnung zurück; dann war auch damit Schluss, und ich verbrachte die Nächte in den Speakeasys, die Naf und seine Partner betrieben. Zum Schlafen zog ich mich nach oben in ein Zimmer zurück, manchmal auch in Gesellschaft. Denn die Empfangsdame Birdie Pomerantz, die nebenher auch einem älteren Gewerbe nachging, hatte es auf sich genommen, mich in eine Sache einzuführen, die sie aus Rücksicht auf mein Alter als »Doktorspielen« bezeichnete. Hinterher schmeichelte sie mir mit der Feststellung »Das war nicht dein erstes Mal«, die später von anderen Damen wiederholt wurde, denn ich spielte weiter den Unerfahrenen und kam dank dieser Strategie zu manch einer Freifahrt.
Häufig ging mir die grenzenlose Faulheit der Bande auf die Nerven. Ganze Nachmittage konnten die Mitglieder im Acme-Büro mit Spekulationen über Sensationsschlagzeilen verbringen. Sie soffen, spielten Binokel oder Pool, aßen mit Schmalz beschmierten Rollbraten in Nafs Filialen an der Ludlow und der Allen Street, und ich machte mit, weil ich mir sagte, dass ich endlich meine Familie gefunden hatte. Aber wenn Arbeit zum Wohl des Syndikats anstand, war ich der Erste, der sich meldete. Anfangs führte ich nur Aufträge in der Nähe unseres Stützpunkts aus, das heißt, südlich der Houston Street und östlich der Bowery. Ich war noch ein Fußsoldat und unterwegs mit Leuten wie Twinkl Salzman, Morris
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