Der gefrorene Rabbi
er sich aus seinem Versteck, um in ein scherut voller Weingutarbeiter zu steigen, das in nördliche Richtung fuhr. Gegen Mitternacht erreichte er den Ort Qever Shimon, von dem aus er sieben triste Kilometer zu Fuß nach Tel Elohim lief.
Trotz der frühen Stunde brannte in dem langen Speisesaal Licht, und auch das Kurzwellenradio war zu hören, das vielleicht Nachrichten über den gescheiterten Bankraub sendete. Bestimmt saßen die Kibbuzniks auf ihren Bänken und ergingen sich in Schuldzuweisungen. Obwohl sich Ruby fragte, ob andere Teilnehmer der Operation den Tumult überlebt hatten - oder waren alle gefasst oder zu Tode geprügelt worden? -, schlich er am Saal vorbei, um möglichst schnell zu seiner Familie zu gelangen. Doch als er den staubigen Hang hinaufstapfte, merkte er, dass sich sein Schritt nicht beschleunigen wollte, dass seine Beine schlotterten, als wäre er plötzlich alt. Normalerweise hätte Abimelech, der sich nur selten herbeiließ, ihn zu begrüßen, neben Schprinze auf dem Holzbett schnarchen müssen, das Ruby für sich und seine Frau gebaut hatte. Doch heute Nacht tollte er vor der Hütte herum und zeigte die Kunststückchen, mit denen er früher Dalilah umworben hatte. Schon aus einiger Entfernung hatte Ruby das hicksende Wimmern seines Sohns vernommen, aber das war nichts Ungewöhnliches, er war eben ein quengeliges Kind. Doch beim Betreten der ranunkelumrankten Wohnstatt fragte er sich, warum seine Frau bei dem Geschluchze an ihrer Brust einfach weiterschlief. (Ruby hatte auch eine Wiege gebaut, aber das Baby schlief nur selten darin.) Völlig erschöpft setzte er sich auf die Matratze neben seine Frau, deren Gesicht im trüben Licht fahl schimmerte, und wollte ihren um das Kind geschlungenen Arm wegziehen. Doch als er ihn berührte, sprang er erschrocken auf, denn schuppig und kühl gleitend entfernte sich der Arm von dem eingewickelten Baby, entrollte sich wie ein dicker Druckverband und platschte auf den Sperrholzboden. Weißglühend streckte, wand und streckte er sich abermals, als er durch die Tür schlüpfte, um unter dem roten Mond am nachtblauen Himmel dunkel und starr zu werden wie ein Stock. Dann löste sich, gefolgt von einem tänzelnden Hund, eine schlanke Gestalt mit einem Sack über der Schulter aus dem Schatten, um den Stab vom Boden zu nehmen und rasch davonzueilen, während Abimelech traurig winselte.
Ein eigens aus Haifa gerufener Arzt führte die Obduktion durch. Er verkündete, was die meisten schon vermuteten: Die junge Mutter war an einer Kombination von Symptomen gestorben - an Schädigungen des Nervensystems und des Kreislaufs, wie der Arzt feststellte -, die sehr wahrscheinlich vom Biss einer in der Gegend heimischen Natter herrührten. Niemand kam auf die Idee, dass es sich um einen Unfall handeln könnte, da die Araber der Region dafür berüchtigt waren, Giftschlangen als Racheinstrumente zu verwenden. Aufgrund der Grenzstreitigkeiten zwischen Tel Elohim und dem Dorf Kafr Qusra war es eher ein Wunder, dass noch nie ein derartiger Mord vorgekommen war.
Um sich zu beweisen, empfahlen die zwei Partisanen, die das Bankdebakel überlebt hatten, eine sofortige Vergeltungsmaßnahme unter der Leitung des Ba’al schaticha. Rache, so behaupteten sie, war die beste Medizin, das einzige Mittel gegen tödlichen Kummer und (so deuteten sie an) für die Wiederherstellung männlicher Tapferkeit. Aber der Ba’al schaticha war offenbar anderer Meinung. Er lehnte sowohl eine Trauerfeier und ein Grab in dem frisch eingeweihten Friedhof ab und beerdigte Schprinze eigenhändig mit einem Geschichtenbuch und der Schlinge des Säuglings am Fuß eines Oleanders, den sie vor der Hütte gepflanzt hatte. Einem nachträglichen Einfall folgend, durchbohrte er Abimelech mit einem Eispickel das Herz und warf den Hund neben das Mädchen ins Grab.
Dann entschieden die Vereinten Nationen, dass ein Volk einen eigenen Staat bekommen sollte, und die Briten begannen einen Rückzug, der es den Arabern und Juden (Brüdern mit verschiedenen Vätern) überließ, ihren Streit zu lösen. Die Palästinenser bereiteten sich auf den Aufstand vor, während an den Grenzen des jungen israelischen Staats arabische Armeen aufmarschierten. Aber bevor die Dämonen zurückkommen konnten, um den Jungen zu holen (denn er wusste, dass sie das vorhatten), nahm Ruben Karp seinen Sohn und floh über die Meere in ein Getto in Memphis, Tennessee.
»Als ich dort ankam«, las Rubys Enkel Bernie seiner Freundin vor,
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