Der gefrorene Rabbi
die Schulter. »Was gibt’s denn für ein Problem?«
»Es gibt ein Problem?«, fragte Bernie ein wenig unaufrichtig.
»Miss Ribalow hier meldet mir, dass du den sohar ausleihen willst?«
Bernie blieb bei seiner Geschichte. »Es ist nicht für mich.« Heldenhaft unterdrückte er den Impuls, die beringten Finger des Rabbis von seiner Schulter zu pflücken. Erneut erklärte er, dass sein Vater mit seinem jüdischen Erbe »in Verbindung treten« wolle - so lautete die gängige Phrase, die er gehört hatte.
Der Rabbi tauschte vielsagende Blicke mit Miss Ribalow. Beide (wie auch die gesamte Gemeinde) waren vertraut mit Julius Karps aggressiver Werbekampagne im Fernsehen, die unvereinbar schien mit der Vorstellung einer spirituellen Suche. Doch zuletzt ließ der Rabbi einen scheinheiligen Gemeinplatz über den Sinn einer Leihbibliothek in einer freien Gesellschaft vom Stapel und erteilte Bernie die Erlaubnis, die häretischen Bände mitzunehmen, allerdings nicht ohne ihm eine aufgesetzt muntere Warnung mitzugeben: »Aber sag deinem Daddy, er soll bloß keine Dingsda, Golems herbeizaubern, hehe.«
Zurück im Keller, schlug der Junge die Bücher mit dem gleichen Herzklopfen auf, das er gehabt hatte, als er Madelines Höschen aus dem Wäschekorb im Badezimmer entwendet hatte. Doch selbst in der Übersetzung waren sie undurchdringlich und voller sphinxartiger Symbole und kryptischer Diagramme. Bernie vermutete, dass es sich um Formeln für Zauber und Beschwörungen handelte, mit denen übernatürliche Wirkungen erzielt werden sollten. Obwohl er nie besonders abergläubisch gewesen war, fragte er sich, ob jemand, der diese Anleitungen befolgte, in eine Trance fallen könnte, die ihn beispielsweise hundert Jahre unversehrt in einem Eisblock überdauern ließ. Doch sein fehlendes Wissen über mystische Disziplin hinderte ihn daran, weiter nachzuforschen, und er empfand es als äußerst frustrierend, in solch eine Sackgasse geraten zu sein. Die Bitterkeit seiner Enttäuschung erstaunte ihn, und er konnte es kaum fassen, dass sein Verlangen nach dem Fleisch (und der Intimwäsche) junger Frauen so ohne Weiteres von einem Hunger nach obskurer Gelehrtheit verdrängt worden war.
Wieder wandte er sich an Rabbi Elieser. In der Gemeinde der Reformsynagoge, die die Karps einmal im Jahr besuchten, kursierte ein Witz: Ihr Tempel war so progressiv, dass er an jüdischen Feiertagen seine Pforten schloss. Dies war zwar eine Übertreibung, doch es stimmte, dass die althergebrachten Traditionen des jüdischen Volks weitgehend aus der Liturgie der Synagoge verbannt worden waren und daher in Bernies Bewusstsein kaum eine Spur hinterlassen hatten. Doch nun nahm die finstere Vergangenheit, repräsentiert durch den modrigen Rabbi, den Jungen ganz und gar gefangen, und obgleich Eliesers Unterricht sich auf nichtssagende Bemerkungen während der weniger spannenden Werbeunterbrechungen beschränkte, sah Bernie die Quelle für all sein neues Wissen in dem Rabbi und betrachtete sich als Schützling des Heiligen.
Wollte der beschäftigte Rabbi ben Zephir jedoch nichts von seinen Anliegen hören, gebärdete sich Bernie bewusst als Nervensäge. Wenn der Alte vertieft war in Geld oder Leben , in Terminator oder in die pikante Sitcom Ménage à Melvin , setzte Bernie sich neben ihn aufs Sofa und übte seine Religion aus. Versuchsweise legte er die Ausstattung an, für die Elieser keine Verwendung hatte, obwohl er sie eigens für ihn besorgt hatte. Dazu gehörten eine seidene kippa, ein gestreifter taleß und lederne Gebetsriemen, mit denen Bernie kämpfte wie mit Schlangen. Um all diese Gegenstände mit seinem Taschengeld im Souvenirladen einer orthodoxen schul zu erstehen, hatte Bernie an einem Samstagvormittag mit dem Bus einen Ausflug in die heruntergekommene Innenstadt gemacht. So gekleidet nahm der Junge ein geborgtes Gesangbuch zur Hand und nickte, wie er es bei den Männern in der angestaubten schul beobachtet hatte (wie Armaturenbrettfiguren mit Bommelmütze), rezitierte das phonetisch transkribierte Gebet schmone esre, das eigentlich nicht laut gesprochen wurde. Meistens schaffte es der Rabbi, ihn einfach zu ignorieren, zumindest solange er ihm nicht die Sicht verstellte. Doch als Bernie einen angeberischen Versuch machte, die hebräischen Bücher im Original zu lesen, die sich ihm nicht einmal in der Übersetzung erschlossen hatten, wurde es Elieser zu bunt. Erbost über das unbeholfene Verhalten des Jungen, riss sich der Alte widerstrebend von
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