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Der gefrorene Rabbi

Der gefrorene Rabbi

Titel: Der gefrorene Rabbi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Stern
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er den verlotterten alten Kerl los, zum anderen profitierte er von einem Geschäftsplan, der so verrückt war, dass er vielleicht wirklich hinhaute. Er wandte sich wieder dem Fernseher zu, um halbwegs zur Vernunft zu kommen. Doch als er merkte, dass ihm der Rabbi (mit der Frage »Abgemacht?«) die runzlige Klaue hinhielt, streckte Julius Karp den Arm aus, ohne hinzusehen. Als sie sich die Hand schüttelten, hatte sich der Fernsehfamilienvater, immer noch in Frauenkleidern, auf die Straße gewagt und wurde von einer sehr maskulin wirkenden Dame in Männerkleidern angesprochen.
     
    Man könnte nicht behaupten, dass Bernie gelauscht hatte, denn er stand direkt vor den Augen seines Vater und des Rabbis neben der offenen Terrassentür. Dennoch hatte er den Eindruck, Dinge zu hören, die nicht für seine Ohren bestimmt waren. Diese Erfahrung erneuerte in ihm das Gefühl, unsichtbar zu sein, das ihn schon fast sein ganzes Leben gequält hatte, auch wenn dieser selbst auferlegte Fluch in letzter Zeit von ihm genommen schien. Doch jetzt, ignoriert von Vater und Mentor, war er gekränkt, weil sie anscheinend auf einmal die dicksten Freunde waren und gemeinsam Pläne schmiedeten, von denen er ausgeschlossen blieb. Wie war das passiert? Und überhaupt, wie kam Rabbi Elieser dazu (gegen ein Honorar) die Geheimnisse zu verschenken, die sich Bernie so mühsam angeeignet hatte? Doch er merkte, dass dieser Gedanke egoistisch war: Die Weisheit des alten Heiligen sollte allen Menschen zur Verfügung stehen. Bernie war natürlich klar, dass der zadik der Hüter eines großen weltlichen und heiligen Wissensschatzes war und seine Gelehrtheit seit Kurzem sogar eine schwungvolle Kritik des modernen Zeitalters umfasste. Trotzdem konnte er sich nicht von dem Standpunkt lösen, dass Rabbi Elieser ben Zephir allein Bernie Karp gehörte und dass die andächtigen spirituellen Lektionen, die er ihm erteilt hatte, in der Familie bleiben sollten. Außerdem hatte Bernie das unbestimmte, schwer zu fassende Gefühl, dass es irgendwie umkoscher war, Erleuchtung auf die gleiche Weise zu vermarkten wie Gebrauchtwagen.
    Tage vergingen, und angesichts der frostigen Behandlung durch seinen Mentor fiel Bernie zurück in alte Gewohnheiten. Träge lümmelte er auf dem Sofa im Hobbyraum, gab das Lesen auf und dachte oft an Selbstbefriedigung, nur die Mahnung wider Onan, der den Samen auf die Erde fallen ließ, um ihn zu verderben, hielt ihn davon ab. Doch nun, da die Schule wieder begonnen hatte, beobachtete er die Mädchen mit fischäugiger Sehnsucht und furchtsam wie eh und je. Nein, eigentlich war er sogar noch furchtsamer, da sein Gesicht nach dem Verschwinden von Speckpolstern und Akne erste Konturen zeigte und ihn die Mädchen, die ihm vorher nicht einmal Missbilligung entgegengebracht hatten, nur noch mit leichter Abneigung betrachteten. Wenn er jetzt auf ihre Marmorschenkel unter dem Saum kesser Röcke starrte, auf ihre Taillen und beringten Nabel, auf die Schmetterlingstattoos, die ihm von nackten Lenden entgegenflatterten, konnte es passieren, dass sie seinen Blick mit einer gewissen Neugier erwiderten. Sie nahmen in einer Weise von ihm Notiz, die Bernie das Gefühl gab, dass er den Mantel der Bedeutungslosigkeit endlich abgeworfen hatte. Doch das machte seinen Zustand noch schlimmer und verstärkte nur sein Verlangen.
    Obwohl Bernies Highschool in einem baumumsäumten Vorort lag und überwiegend von weißen Kindern aus wohlhabenden Familien besucht wurde, war sie eine Art Vorhölle. Entweder wurde man von brutalen, kleiderschrankartigen Neandertalern ohne Vorwarnung gegen einen Spind gerammt oder von Schnöseln, die die heraldischen Insignien einer Bruderschaft trugen, mit verachtungsvollen Blicken durchbohrt. Es gab die Golden Girls mit ihrem langweiligen Gefolge; Hipster mit nach Gras miefenden Dreadlocks und Batikaccessoires und andere mit Stachelhaar in Primärfarben und Piercinghardware in Nasen und Lippen wie bei gefangenen und wieder ins Wasser geworfenen Fischen. Halbwüchsige Verführerinnen lockten willenlose Jungen in Klokabinen mit kaugummigeblendeten Kameras; Nachwuchssatyrn, deren Mund zerfetzt war von Begegnungen mit kieferorthopädischem Gerät, schleppten taufrische Schönheiten ins Büro der Vertrauenslehrerin, die ihrerseits wegen Fehlverhaltens gegenüber Schülern entlassen wurde. Nachdem er von klein auf durch diese korrumpierenden Korridore geschritten war, sah sich Bernie, der mittlerweile in der elften Klasse war, auf allen

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