Der gefrorene Rabbi
Ponyfransen nach oben wehten wie eine Welle. »Du bist doch der Loser, der sich immer ausklinkt.« Ihr Akzent grenzte an einen Hillbilly-Singsang.
Er sah keinen Grund, es abzustreiten.
»Hier gibt’s haufenweise Spinde - warum müssen die dich ausgerechnet in meinen stopfen?«
Auch er konnte sich keinen Reim darauf machen.
Nachdem sie ihn angestarrt hatte wie ein seltenes Insekt, forderte sie: »Also, raus mit dir!«
Entschuldigend erklärte er ihr, dass er sich nicht bewegen konnte. Er hatte so lang die Haltung nicht verändert, dass sich seine Muskeln verkrampft hatten.
»Was für Muskeln?« Sie fasste in den sarggroßen Raum, packte ihn am Arm und zerrte, bis er auf den abgewetzten Linoleumboden purzelte. Dort machte er sich an die schmerzhafte Aufgabe, sich wieder auseinanderzufalten. Dabei blickte er zu dem Mädchen auf und bemerkte, dass sie trotz Make-up und zerschlissener Kleidung richtig hübsch war. Sie trug eine zerrissene Jeans und eine klobige schwarze Lederjacke über einem pinkfarbenen T-Shirt; die Füße waren die einer Tänzerin und steckten in hufartigen gelben Clogs. Dünn wie ein Fohlen, hatte sie einen durchaus ansprechenden Mund mit violettem Lipgloss in einen krummen Kupidobogen verwandelt, und ihre jadegrünen Augen bekamen durch den dunklen Lidschatten etwas aggressiv Katzenartiges. Der Pony klebte an ihrer Stirn wie eine Kappe. Ihre Kluft entsprach der Punkattitüde, die manche Mädchen vor sich hertrugen, nur dass die Kleider bei ihr aussahen, als wären sie auf natürliche Weise abgenutzt worden. Und während ihr Akzent sie als ein Mädchen aus der Arbeiterschicht entlarvte, das in der Hackordnung der Highschool unweigerlich als Schlampe abgestempelt wurde, trotzte sie mit ihrer Haltung jedem, der sie überhaupt einordnen wollte.
Als sie erkannte, dass er immer noch Schwierigkeiten mit seinen starren Gliedmaßen hatte, fasste sie ihn erneut am Arm und zerrte ihn auf die Beine. Schockiert von der Berührung durch weibliche Finger, bedankte Bernie sich. Dann wich ihm plötzlich das Blut aus dem Kopf, und das Mädchen musste ihn stützen, damit er nicht zusammenklappte. Als sie die Hände von seinen Armen nahm, tat es ihm fast leid, dass er wieder ohne Hilfe stehen konnte. Aber jetzt reichte es allmählich. Sie hatte ihr Soll an Hilfsbereitschaft erfüllt und konnte stolz auf sich sein. Der eigene Zynismus ließ Bernie innerlich zusammenzucken. Warum verschwand sie nicht einfach?
Während vorbeikommende Schüler sie angafften, weil sie sich herabließ, mit Bernie Karp zu reden, biss sie sich auf die Unterlippe, als würde sie buchstäblich an einem Gedanken kauen. Dann fragte sie ihn mit einer Stimme, die kaum mehr als ein Flüstern war: »Und wohin kommst du?«
»Hä?«
»Wohin kommst du, wenn du, du weißt schon, wenn du dich so abseilst?«
Bernie konnte nicht erkennen, ob das Zittern, das er spürte, aus den Eingeweiden der Erde kam oder aus seinen eigenen. Niemand außer Mr. Murtha, der sich nur über ihn lustig machte, hatte es je für nötig gehalten, ihn danach zu fragen. Er sagte sich, dass das aufdringlich war; sie hatte kein Recht, ihm nachzuschnüffeln, seine Ekstase gehörte nur ihm. Aber dieses Mädchen ließ sich das Starren anderer Schülerinnen gefallen, nur um sich nach seinen Erfahrungen zu erkundigen, und sosehr er sich auch dagegen sträubte, er empfand vor allem Dankbarkeit.
»Meistens in den Himmel.« Schon war die Antwort aus seinem Mund geflattert wie eine gefangene Motte, von deren Existenz er nichts geahnt hatte.
»Cool.« Betont in der vorgeschrieben lässigen Art, nur dass es bei ihr eine Spur ironisch klang.
In der folgenden Stille trat Bernie nervös von einem Bein aufs andere und fragte sich, ob auch sie sich nur über ihn lustig machte. Er fühlte sich so verletzlich, dass er sie am liebsten einfach stehen gelassen hätte, aber er konnte sich nicht dazu aufraffen. Vielleicht musste ihn der Hausmeister wieder loseisen? Er hatte sich so sehr an Spott und Streiche gewöhnt, dass ihn so etwas wie ehrliche Neugier völlig aus der Fassung brachte. Nichts beherrschte er so gut wie Flucht, doch hier und jetzt fiel ihm keine praktische Ausrede ein, um sich aus ihrem Blick zu lösen.
»Und wie isses da?«
Bernie hatte das Gefühl, auf dünnes Eis gelockt zu werden. »Das kann ich eigentlich nicht beschreiben«, stammelte er.
Auf ihrer Stirn bildeten sich Falten. »Was soll das heißen? Dass du es nicht beschreiben darfst oder dass dir die Worte
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