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Der gefrorene Rabbi

Der gefrorene Rabbi

Titel: Der gefrorene Rabbi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Stern
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vermoderte Sarg, in dem er präsentiert wurde. Hatte Schmerl diesen Kasten nicht schon einmal irgendwo gesehen? Es beunruhigte ihn, dass er sich nicht entsinnen konnte, ebenso wie die Tatsache, dass das Eis trotz der frostigen Außentemperaturen durch die dampfige Wärme im Museum und die Legionen der Vorüberziehenden langsam schmolz. Und als der Professor seine Abhandlung beendet hatte, trat Schmerl mit der Mütze in der Hand auf ihn zu, um ihm einen Vorschlag zu unterbreiten.
    Allmählich leerte sich der Raum für die nächste Besucherwelle, und die Kunden wurden angehalten, durch einen Vorhang zu schreiten, um einem Melodrama mit dem Titel »Mazeppas letzter Ritt« beizuwohnen, das in Kürze beginnen sollte.
    »Das Eis, woß schmilzt«, meinte Schmerl bescheiden, »kann ich es reparieren für Sie.«
    Der Professor musterte den Einwanderer wie ein potenzielles Exponat für seine Ausstellung. Dann ließ er den jungen Buckligen mit einer zusehends lauter werdenden Stimme wissen, dass er mit seinem Angebot tatsächlich einen wunden Punkt getroffen hatte. Er erklärte Schmerl ganz offen, dass sich ohnehin kaum jemand für den alten Knacker interessierte; bald war das Eis flüssig, und dann hatte er einen modrigen hebräischen Kadaver am Hals. Eigentlich, fuhr er zunehmend erregt fort, war das Ding nicht einmal die Instandhaltungskosten wert; dem Museum ging es mit seinen lebenden Kuriositäten recht gut. Auf dem Gipfel seines Grolls entspannten sich seine Züge plötzlich, das Monokel fiel herab und baumelte wie ein Medaillon an einer Schnur.
    »Wollen Sie ihn?«, fragte er Schmerl. »Sie können ihn haben.«
     
    Während der Straßenbahnfahrt zur Norfolk Street streckte sie eine rundliche Hand aus. »Mrs. Esther Weintraub, Witwe«, verkündete sie, als wäre Letzteres ihr Beruf, »aber bitte nennst du mich Esther.« Den schlingernden Pferdewagen und die plappernden Passagiere überschreiend, schränkte sie ihre Aussage ein. Eigentlich war sie nur eine Strohwitwe, da ihr Mann zu der großen Zahl Vermisster gehörte, deren Fotos täglich in der Rubrik »farschwundn mentschn« im Forverts erschienen. Sie war bei Gericht gewesen, um als Zeugin ihres Hausherrn gegen einen zahlungsunfähigen Mieter auszusagen, und war geblieben, um zu beobachten, wie die trombenikß ihre gerechte Strafe erhielten. Doch dann hatte sie Mitleid mit dem verwirrten Einwanderer bekommen. »Bin ich die Sklavin von meinem großen Herzen.« Bei diesen Worten drückte sie die Hand auf ihre üppige Brust. Von Beruf war sie Schneiderin, bekannte sich aber zu einem Arrangement mit ihrem Vermieter Mr. Opatashu, einem vornehmen Gentleman und Gelehrten, der wie sie aus Velsch stammte. In seiner Großzügigkeit hatte er ihr gestattet, im Austausch gegen ihre Dienste als »Hausbesorgerin« unentgeltlich in ihrer Wohnung zu bleiben. Sie legte eine kecke Betonung in das Wort, versicherte Max aber sogleich, dass dieser Beziehung nichts Unanständiges anhafte. Ein wenig hysterisch, wie Max fand, plauderte sie weiter über ihren Mann, der ein nutzloser Lump war. Sie war froh, ihn los zu sein, sie kam allein recht gut zurecht, schejnem dank, und war daher imstande, einem Neuling wie … Wie war sein Name gleich wieder? »Ach ja, Max. Machst du dir keine Sorgen, Max. Erlasse ich dir von dem ersten Monat die Miete, bist du verdienst einen Lohn.« Mit den Fingerspitzen strich sie ihm sacht über die Wange. »Hob ich Verbindung mit einem gewissen Kleiderhersteller. Woß du sogst, bist du nicht geschickt? Jeder, woß kommt von dem Schiff, ist er im Handumdrehn ein Schneider wie der Kolumbus …«
    In ihrer Wohnung im ersten Stock machte sich die Witwe mit dem ausladenden Hinterteil geschäftig daran, Kohlen in den Kamin zu schütten und ausgeleierte Unterwäsche von einer durch die Küche gespannten Leine zu nehmen, während Max zusammengesunken am Tisch saß. Schwatzend erzählte sie, dass sie noch nie einen Untermieter gehabt hatte, dass Mr. Opatashu ihr das kleine Zusatzeinkommen aber sicher nicht missgönnen würde. Allerdings, so überlegte sie, während sie ihre Perücke zurechtrückte, galt es auch die potenzielle Eifersucht des Hausherrn zu berücksichtigen … Bei aller Mattheit war Max doch mulmig zumute, weil er dieser Frau so ausgeliefert war. So hatte er sich das nicht vorgestellt. Aber in der Wohnung war es warm, und er war froh, das Gefängnis und die Straßen hinter sich zu haben. Besonders dankbar war er für den gefüllten Hühnerhals und die

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