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Der gefrorene Rabbi

Der gefrorene Rabbi

Titel: Der gefrorene Rabbi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Stern
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geschrieben hatte, den Filmpalast, wo Elvis Presley als Platzanweiser gearbeitet hatte -, die zu ihrer Enttäuschung längst verschwunden waren. Auf Bernies Vorschlag hin nahmen sie in ihre Route sogar die verlassene North Main Street auf, aus der sich die alten jüdischen Einwanderer (mit Ausnahme einer letzten Synagoge) schon vor langer Zeit verabschiedet hatten.
    »Die Vergangenheit ist ein verlorener Kontinent«, erklärte Lou elegisch, was die Gegenwart in Bernies Augen noch überflüssiger machte.
    Es fiel ihnen schwer, ihre Beziehung zu definieren, aber weniger, weil sie nicht vollzogen war. Schließlich waren sie erst sechzehn, und Geschlechtsverkehr war auch im neuen Jahrtausend keine Vorbedingung dafür, dass man sich als Paar betrachtete. So lautete zumindest Bernies Lesart. Er hätte Lou Ella gern als seine Freundin bezeichnet, wenn sie selbst dieses Etikett nicht gescheut hätte. »Ich bin deine Betreuerin.« Sie fand diese Metapher aus der Sportwelt passender. Wenn er sie so reden hörte, wurde Bernie schwer ums Herz. Oft hatte er das Gefühl, sie im Stich gelassen zu haben, aber sie versicherte ihm, dass er keine Gewissensbisse zu haben brauchte. »Hauptsache, du machst mich stolz.« Sie überließ es ihm, ihre Worte zu deuten. Dennoch knutschten sie herum, wenn auch vorsichtig, wegen Sue Lily, die häufig reglos zwischen ihnen eingekeilt war. Anfangs machte die Kleine Bernie verlegen, doch dann ignorierte er sie einfach. Das wiederum erregte Lou Ellas Missfallen. »Bitte, respektiere, dass sie ein Mensch ist.« Auf seine Klage hin - »Ich kann’s dir nicht recht machen« - schnalzte sie in gespieltem Mitleid mit der Zunge und verfrachtete ihre Schwester auf den Rücksitz.
    In der Gewissheit, dass sie auf ihn wartete, fasste Bernie den Mut, in seiner Entrückung weiter zu reisen, als er es bis dahin gewagt hatte. Allerdings hörte er bei seiner Rückkehr oft ein knappes: »Was hast du mitgebracht?« Wenn er ihr die leeren Hände zeigte, bemerkte sie mürrisch, dass die Erde in den letzten Zügen lag, dass Armageddon nahte und er noch immer ohne Neuigkeiten aus den Galaxien zurückkam. »Es ist der Anfang vom Ende der Welt, ist dir das noch nicht aufgefallen? Und du als alter Doofkopf hortest weiter alles Schöne nur für dich.« Nachdem er angedeutet hatte, dass sie da vielleicht ein wenig übertrieb, beschloss Bernie dennoch, den Telezadik Rabbi ben Zephir aufzusuchen, von dessen Rat er sich Aufschluss erhoffte.
     
    Das neue Haus der Erleuchtung hatte seinen Sitz in einem stadiongroßen, von Kreppmyrte und Flieder umgebenen Bau auf einem Hügel, der mit zottigen Rasenplatten bedeckt war wie ein Iglu aus Gras. Ursprünglich ein baptistisches Gotteshaus, dessen Pastor wegen eines Beten-für-Sex-Skandals in Ungnade gefallen war, hatte sich die gewaltige fliegende Untertasse nach dem Besitzerwechsel nur wenig verändert. Als sich Bernie dem Bauwerk im feuchten Morgendunst näherte, versetzte er es im Geist unwillkürlich auf den Tempelberg in Jerusalem, wo die Anhänger des Rabbis gefesselte und blökende Tiere zur Opferung die Treppe hinaufschleppten. Vorn verkündeten die austauschbaren Buchstaben eines großen Schilds von der Art, die sonst Jesus zum Herrn erklärten: LEBT, ALS WÄRE DER TAG SCHON GEKOMMEN! Welcher Tag, fragte sich Bernie, der das Bevorstehen eines neuen Zeitalters mit Skepsis betrachtete. Doch angesichts der flächenmäßigen Ausdehnung der Institution musste Bernie einfach den Ehrgeiz des Rabbis bewundern. Wie einsam war dagegen sein eigener Weg! Deshalb überlegte er auf Lou Ellas Drängen hin (obwohl sie sich möglicherweise nur einen Witz erlaubt hatte) seit Kurzem, ob er nicht trotz seiner jungen Jahre und fehlenden Referenzen ebenfalls seelsorgerisch tätig werden sollte. Auch dazu wollte er den Rabbi um seinen Rat bitten. Er war früh gekommen, in der Hoffnung, der Hitze zu entrinnen und den Alten anzutreffen, ehe sein Tag mit der endlosen Abfolge von Selbstfindungskursen und Motivationsvorträgen begann.
    Als er die Glastür zum Foyer noch geschlossen vorfand, pochte Bernie an die Scheiben, die krachten wie ferner Donner. Sogleich erschien ein breitschultriger Schwarzer mit verspiegelter Sonnenbrille, um aufzusperren. Beim Öffnen drang ein eisiger Schwall vollklimatisierter Luft durch die Tür.
    »Was kann ich für Sie tun?«, fragte er mit einer Stimme, die aus den Tiefen einer Öltonne aufzusteigen schien. Als Bernie den Wunsch äußerte, den rebbe zu sprechen, erkundigte

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