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Der gefrorene Rabbi

Der gefrorene Rabbi

Titel: Der gefrorene Rabbi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Stern
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Versammlung zu sehen.
    Die Menschen waren zwar nicht in hellen Scharen erschienen, wie die Zeitungen berichteten, aber für einen Werktagmorgen war die Zahl ziemlich beeindruckend. Der Kreis setzte sich vorwiegend aus jungen und nicht mehr ganz so jungen Damen in modischer Sportkluft zusammen, unter die sich hier und da ein ähnlich gekleideter tuntiger junger Mann mischte, während der Rest der Anwesenden - Ehefrauen in Caprihosen, Ehemänner in Muskelshirts und Sportmützen - aus der Ära des Baptistenpredigers übrig geblieben schien. Waren sie aus alter Gewohnheit wiedergekommen? Auf einem erhöhten Podium in einem thronartigen Sessel, mit einem winzigen Mikrofon, das sein Kinn wie eine Fliege zu umkreisen schien, begann Rabbi ben Zephir seine Kanzelrede. Dabei ging es um den Fall einer Mrs. Kissel, deren Caterer am Abend vor der Bar-Mizwa ihres Sohns Sean einen Herzinfarkt erlitten hatte. Dem Ereignis hätte eine an dem Videospiel Grand Theft Auto orientierte Themenparty folgen sollen - mit einem Kuchen in Autoform auf einer Hebebühne.
    »Mrs. Kissel, woß is heute hier?«
    Eine bärenhaft gebaute Frau erhob sich unbeholfen und erntete reichen Applaus.
    »Mrs. Kissel, woß hätte platzen können vor Wut, aber anstatt so wird sie …« Mit weit ausholender Geste forderte der Rabbi seiner Gemeinde das Wort ab, die wie aus einem Mund rief: »Proaktiv!« »Meditiert sie über die Namen des Namenlosen«, fuhr er mit erhobener Stimme fort, »woß hat ihr geholfen zu sehen besser die Essenz statt die schäbige Substanz von der bar mizwe ihres Sohns. Sieht sie, wie er auf der höheren Ebene schon liest seinen Abschnitt der Thora im Beisein von Rabbi Hillel und Rabbi Schammai.« Auf einer Leinwand hinter dem Leser wurden per Powerpoint Bilder der alten Weisen sowie Schnappschüsse von Sean projiziert, der in seinem taleß zwischen Actionfiguren des Computerspiels Grand Theft Auto stand. »Am nächsten Tag der Cater, olav ha-scholem, is er tot, der Empfang nach der bar mizwe eine Katastrophe …« Ein weiteres Bild zeigte Gäste in einem gemieteten Saal, die verwirrt das Fehlen von Speisen bemerkten. »Aber bleibt in ihrem proaktiven Kreis Mrs. Kissel ganz ruhig, weil sie weiß von Himmel und Erde die Kon-ti-gu-i-tät. Also, woß is die Lehre? Woß aussieht, wie wenn es nicht is der Garten Eden, mit a bissl angepasst von dem Blickwinkel is es doch der Garten Eden.«
    Verunsichert von dem Gehörten, schüttelte Bernie den Kopf, wie um einen Floh im Gehirn loszuwerden. Inzwischen wurde Chormusik ins Amphitheater geblasen, und die Teilnehmer sprangen zutiefst bewegt auf, um sich mit erhobenen Händen hin- und herzuwiegen. Der rebbe versicherte ihnen, dass das Licht genauso wenig verborgen war wie die afikojmen am Vorabend des Pessach, die der Papa versteckt, während die Kinder zusehen; sie mussten nur die Augen offen halten. Dann winkte er alle Anwesenden von den Tribünen herab und erklärte ihnen, nachdem sie sich auf dem Kunstrasen zu seinen Füßen niedergelassen hatten, in pseudowissenschaftlicher Terminologie das Ben-Zephir-System zur Vermehrung des Sauerstoffs in der Lunge und damit zur Herabsetzung der Ventilwirkung des Gehirns … und so weiter. Begleitet von visuellen Beispielen - Häuser mit Satellitenschüsseln, Küchenmaschinen, Digitalkameras und Schusswaffen neben dicken Putten von Currier & Ives -, führte er sie durch eine Lachmeditation, bei der sich auch allmählich Bernies spezielle Wahrnehmungen bemerkbar machten. Überall um sich herum sah er einen Karneval der Auren, der von Technicolor bis Rotzgrau reichte, und dudelsackförmige Seelen, die aus antiken Kostümen schlüpften, um splitternackt in der heutigen Zeit anzukommen. Die Sitzung endete mit einem Bußgebet, und die Versammelten klopften sich auf die Brust wie zu einem kriegerischen Salut. Nach einem kurzen Segen wurde der Rabbi von seinem stiernackigen Feldwebel durch das Gewühl der Gläubigen geschleust, die ihn alle berühren wollten.
    Als er, gestützt von mehreren Frauen, wieder in seinen Kommunikationshorst eintrat, klebten ihm die wenigen verbliebenen Haarbüschel in nassen Locken an den eingesunkenen Schläfen; sein Gesicht war bedeckt mit Schweiß, den ihm das Mädchen mit dem Zopf (das wirklich kaum älter wirkte als Bernie) eifrig abwischte. Der Zopf kitzelte ihren Hintern, der seinerseits die Falten ihres Rocks hob wie der Schwanz eines Rebhuhns, während sie ihm die Schminke aus dem Bart tupfte.
    »Bist du noch da?«, erkundigte

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