Der gefrorene Rabbi
sich der Mann - er trug eine bucharische kippa auf dem kahl geschorenen Schädel und hielt ein Walkie-Talkie in der lederumspannten Hand -, ob er einen Termin hatte. »Nein«, antwortete Bernie, »aber wir sind praktisch miteinander verwandt.« Er nannte seinen Namen. »Ich sehe, was sich machen lässt.« Der Wachmann bedachte Bernie mit einem schiefen Blick, und der Junge sah sich in einem der Spiegelgläser: ein Halbwüchsiger mit großem schnojz und Lockenkopf, ein schlotterndes T-Shirt um den dürren Oberkörper. Er schielte auf das andere Glas, um vielleicht ein imposanteres Gesicht zu erblicken, aber das Bild war das gleiche. Der Mann sprach in sein Funkgerät und führte Bernie nach einer knisternden Zusage mit wiegendem Gang vorbei an einem Souvenirladen, in dem Bücher und Arkana zu astronomischen Preisen angeboten wurden. Sie traten in einen Aufzug mit Glastüren, der große Ähnlichkeit mit einem riesigen Eiswürfel hatte. Der Lift passierte das Zwischengeschoss mit seinem breiten, lichtdurchfluteten Gang um das Auditorium und gelangte zur zweiten Etage, auf der sich ein schmaler Laufsteg bis zu einer gruftartigen Tür erstreckte. Bernies Begleiter überquerte die dröhnende Stahlkonstruktion und klopfte. Durch ein Guckloch blinzelte überflüssigerweise ein Quallenauge, denn an der Wand war eine Überwachungskamera angebracht. Hinter einer Schiebetür auf Metallrollen kam eine dralle Frau mittleren Alters zum Vorschein. Sie trug ein Muumuu mit Blumenmuster und lächelte mit roten Wangen. Das Haar war um ihren Kopf gespult wie Zuckerwatte.
»Bernie!« Sie begrüßte ihn wie einen alten Bekannten. »Unser rebbe hat uns ja schon so viel von dir erzählt!«
Nachdem sich der Myrmidone mit einem tiefen »Friede mit dir« zurückgezogen hatte, musterte der Junge die Frau genauer. Er glaubte sie aus dem alten Kabbalazentrum an der Rebel Yell Shopping Plaza wiederzuerkennen, doch in seiner Erinnerung sahen die Damen dort alle gleich aus. Dieser Eindruck verstärkte sich, als eine zweite, ähnlich gekleidete Frau mit einem dank plastischer Chirurgie gestrafften Gesicht seinen anderen Arm nahm und ihn ebenfalls anschwärmte wie einen nahen Verwandten. Gemeinsam führten sie ihn in ein geräumiges, korkgetäfeltes Zimmer, eine Art Hybrid aus Pressetribüne und Kontrolltower. Dort saß eine weitere kaftangewandete Lady mit einem Kopfhörer über der Medusafrisur an einem blinkenden Computerterminal, von dem sie mit einem süßen Lächeln zu Bernie aufblickte. Vor ihr zeigten Fenster mit dicken Scheiben auf eine zirkuszeltgroße, von steilen Sitzrängen umrahmte Kunstrasenarena. Über den Fenstern schmiegte sich eine Reihe von Monitoren an die gewölbte Wand, die alle jeweils einen anderen Ausschnitt des Auditoriums zeigten. »Das ist sozusagen die pulsierende Lebensader im Haus der Erleuchtung«, erklärte die Frau mit dem Zuckerwattehaar in ihrer Rolle als guter Geist. Gerade als Bernie durch die getönten Scheiben unten im Amphitheater die ersten Anhänger erspäht hatte, die sich für die Morgensitzung versammelten, hörte er hinter sich ein vertrautes Krächzen.
»Jingl!«
Er drehte sich um und sah Rabbi ben Zephir persönlich, der aus einem Privatzimmer eingetreten war. Er trug eine Mütze wie eine gekürzte Mitra und einen leichten, lauchgrünen Sommeranzug. Ein weiteres weibliches Wesen im adretten Tennisröckchen und mit einem kastanienbraunen Zopf, der über die volle Länge der Wirbelsäule reichte, war damit beschäftigt, ihm einen bestickten ephod über den Kopf zu ziehen. In seinem Kragen steckte eine Krause aus Papiertüchern, um sein Gewand vor der Schminke zu schützen, die ihm die Frau (eigentlich noch ein Mädchen) mit dem Zopf in die zerfurchte Stirn puderte.
»Harzenju.« Er schlurfte heran und kniff Bernie in die Wange. »Kehrt er zurück, der verlorene Sohn. Schaut er aus, wie wenn er gebrauchen könnte woß zum Essen. Messy? …« Die Zuckerwattedame - deren Name Messalina lautete, wie ihm der Rabbi zuflüsterte - nahm einen Teller Fruchtplunder von einem Konferenztisch und hielt ihn Bernie hin, der dankend ablehnte. Sein Magen war im Moment zu nervös, um Nahrung aufzunehmen. Dennoch war er dankbar für die überschwängliche Begrüßung, die den Spott ersetzte, den er bei seinem letzten Besuch gespürt hatte.
»Wie geht es den Eltern?« Rabbi Elieser schob die Hand des Mädchens mit der Puderquaste weg. »Brauchst du nichts erzählen. Dein Papa, schmiedet er wieder einen Geschäftsplan,
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