Der geheime Basar
an vor.»
Eine unbeholfene, ausgeprägte Handschrift, die mit jähzorniger Hast kalte Informationsbrocken hingekritzelt hatte.
Oktober 2004. Ein dreizehnjähriges Mädchen namens Schila Izadi aus der Stadt Mariwan ist zum Tode verurteilt worden, nachdem sich herausgestellt hatte, dass sie von ihrem fünfzehnjährigen Bruder geschwängert worden war. Der Bruder wurde zu einer Prügelstrafe verurteilt. Der Richter übte Nachsicht mit ihm, während Schila das Kind im Gefängnis zur Welt brachte, von ihm getrennt und auf ihre Hinrichtung vorbereitet wurde. Das lokale Interesse war dürftig. Erst als die legendäre Rechtsanwältin Schirin Abadi sich einschaltete und der Welt von der Tragödie berichtete, erfolgte internationaler Druck. Das Gericht reduzierte das Urteil auf nur fünfundfünfzig Hiebe. Der Leiter des Jugendschutzzentrums warnte, dass sie nirgendwohin gehen könne, denn ihre fromme Familie habe sie wegen der Schande ausgestoßen, sie erhalte keine ärztliche Behandlung, und sie weine die ganze Zeit. Doch ihr Leben, das müsse gesagt werden, ist ihr vorläufig zurückgegeben.
Ich wollte sagen, siehst du, Muhammad, das ist genau, was wir brauchen, manchmal tut jemand etwas, und es glückt. Internationaler, öffentlicher Druck, hilf mir. Doch ich scheute mich, es auszusprechen.
«Hundertfünfunddreißig Minderjährige warten in den Todeszellen auf ihren Termin. Hast du das gewusst?», fragte er mich, «oder auch das nicht? Hast du hier gelebt und von nichts gewusst?»
«Ich habe es gewusst. Das heißt, allgemein.»
«Und was hast du gedacht?»
«Dass man Prostituierte und Frauen, die ihre Ehemänner ermordet haben, zu Tode steinigt, in Ausnahmefällen», bekannte ich und senkte den Blick.
«Und das war für dich in Ordnung?» Er blätterte für mich weiter. «Hier, da sind deine Prostituierten», schrie er mich an und befahl: «Lies!»
A’atekeh Radschabi, eine sechzehnjährige Prostituierte, wurde am 15. August 2004 am Stadtplatz von Neka aufgehängt. Die Anklage lautete auf unmoralisches Benehmen, unzüchtige Handlungen und Profanierung des Islams, zudem hatte sie einen Schuh nach dem Richter geworfen und ihre Kopfbedeckung vor ihm abgenommen, denn sie argumentierte, er müsse für sexuelle Handlungen bestraft werden und nicht sie. Der Richter nahm die Hinrichtung persönlich vor. Er legte das Seil um ihren Hals und sagte zu ihr: «Das wird dir eine Lehre sein.» Ihre Mutter wurde bei einem Verkehrsunfall getötet, als sie fünf war. Ihr Vater wurde drogensüchtig. Sie kümmerte sich um ihre achtzigjährigen Großeltern. Wurde als lebhaftes, intelligentes Kind beschrieben. Man sah sie jedoch häufig auf der Straße, sie trieb sich herum. «Die Zigeunerin von Neka» nannten sie das Mädchen. Sie wurde wegen ihrer Anwesenheit bei einem unmoralischen Fest verhaftet und erneut, als sie man sie mit einem Jungen in einem Auto ertappte. Sie bekam hundert Hiebe. Das vierte Mal wurde sie verhaftet, als sie für ihre Großeltern gerade das Abendessen kochte, nachdem bei der örtlichen Polizei eine nicht unterschriebene Petition im allgemeinen Namen der Ortsbewohner eingegangen war, in der sie sich über den negativen Einfluss des Mädchens auf die Schülerinnen im Viertel beschwerten. Sie wurde verhört und gestand, wiederholte sexuelle Beziehungen mit einem einundfünfzigjährigen Mann unterhalten zu haben, der in der Vergangenheit bei den Revolutionsgarden gedient hatte, inzwischen jedoch Taxifahrer geworden war, ein verheirateter Mann mit Kindern. Gemäß dem Gesetz der Scharia ist es erlaubt, sexuelle Beziehung ab dem Alter von neun Jahren zu unterhalten, aber natürlich nicht, ohne verheiratet zu sein. Die Beziehung währte drei Jahre. Ihre Familie hatte kein Geld für einen Rechtsanwalt. Der ehrwürdige Richter erregte sich dermaßen über die dreiste Sprache des Mädchens, dass er sich selbst zum Obersten Gerichtshof begab, um das Urteil bestätigen zu lassen. In der Anklageschrift wurde ihr Alter mit zweiundzwanzig festgehalten, denn das Gericht beschloss, sich auf ihr reifes äußeres Erscheinungsbild zu stützen, doch in ihrer Geburts- und Sterbeurkunde stand sechzehn.
«Lies!», schrie Muhammad. «Du lebst in dieser Welt, also lies!»
Ajatollah Hussein Mussawi Tabrizi, Mitglied des Theologischen Seminars von Qom, sagt, dass die Philosophie hinter dem islamischen Bestrafungssystem dahingehend ziele, die Gesellschaft von Sünden zu reinigen, die Seelen vor verbrecherischer Neigung zu bewahren und
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