Der geheime Basar
sogar ein frommes Telefongespräch mit der Hotline für Gläubige führte ich. Ich surfte auf Regierungswebsites und Unterstützerkreisen der Partei im Internet, imprägnierte sie mit fertigen Fingerabdrücken – ein Musterbürger. Ich brach mit der Routine, wechselte Bus- und Metrostationen, verwirrte die Verfolger, bis ich selbst ganz durcheinanderkam, und bei allem, was ich normalerweise tat, verlangte ich von mir, das Gegenteil zu tun – Erkältung und Fieber? Ich nahm keine Tabletten. Eine Delikatessenprobe im Supermarkt? Auf keinen Fall probieren. Meine Bankfiliale? Am anderen Ende der Stadt. Ich verschleierte, verhüllte, vertuschte, versteckte. Ich ließ mich nicht dazu verleiten, neue Menschen in mein Leben zu lassen, weder online noch im richtigen Leben, nicht in der Bibliothek und nicht in der Uni. Jedes Licht, das im Salon flackerte, war ein Zeichen. Jeder Spiegel war ein potenzielles Versteck für Kameras, jede SMS wurde von mir mit Blick auf Polizeiermittler gesendet, die nur darauf warteten, mich zu Fall zu bringen. Und ich war leicht zu Fall zu bringen.
Manchmal schloss ich die Augen und hatte das Gefühl – ich spürte es regelrecht –, dass wir von Kettenrasseln und kreischenden Motoren erwachten, zum Fenster stürzen und Panzer sehen würden. Im Internet wären wilde Gerüchte in Umlauf, wir würden den Fernseher einschalten, wo sie traditionelle persische Lieder spielen. Höchst verdächtig. Ein verwirrter Sprecher würde uns mit wildem Blick vom Bildschirm entgegenstarren und mit dramatischer Stimme verkünden, dass eine Epoche zu Ende gegangen sei. Die freiheitlichen Kräfte, unter dem Befehl eines jungen, vielversprechenden Offiziers, verkünden in einstimmigem Ratschluss mit Exilführern und Intelligenz eine allgemeine Mobilmachung im Namen der Freiheit und Wiederherstellung. Wir alle seien in dieser Stunde der Prüfung zu höchster Verantwortung aufgerufen, die Herrschaft gehe in die Hände des Volkes über. Muhammad vom Schwarzmarkt würde dort sein, im Fernsehen, und mit dem neuen Führer tuscheln. Polizisten würden die Tür der Familie Nadschafian aufbrechen, alle in Handschellen abführen. Auch den fetten Jungen. Denn die Masse wäre reif und aufgeklärt genug, um die Last zu tragen und selbst zu wählen, das Denunzieren einzustellen. Die Masse würde zum Azadi-Platz strömen, johlend vor Aufregung. Frauen würden sich die Schals von ihren Köpfen reißen. Nilu und ich würden auf ein kaltes Panzergeschützrohr klettern und uns vor den Kameras küssen – unser Bild käme auf die Titelseiten der Zeitungen, vielleicht sogar weltweit, das Symbol für einen neuen Anfang. So würde meine Mutter am Zeitungskiosk, völlig überraschend, auf mich stoßen und vor Stolz weinen. Und Zahra würde am Telefon hängen, denn ein Filmproduzent würde sie anrufen, es hätte sich doch gelohnt zu hoffen. Und Babak würde aus dem Gefängnis zurückkehren, mit Narben übersät, aber stärker denn je. Ich würde ihm eine Arbeit bei «Reuters» besorgen. Nein, eher bei der Agentur «Rico Image Modeling & Tourism». Wir wollten jetzt keine Nachrichten, wir wollten Liebe. Er wollte einen Soldaten? Sollte er ihn haben, einen Friedenssoldaten der UN . Und der Unterricht an der Universität würde ausgesetzt. So wäre das, wenn sich alle vereinen, um das Land neu aufzubauen, wenn die Menschen sich neu erfinden dürften, wenigstens einmal im Leben. So schlief ich ein, ließ mich von Zauberlösungen forttragen. Doch wie Herr Ali Samimi immer sagte: «Es gibt keine Zauberlösungen im Leben, es gibt überhaupt keine Lösungen im Leben.» Und Frau Safureh: «Es ist ohnehin alles vergänglich und völlig bedeutungslos, hör auf, Blödsinn zu reden.» Die Panzer der Revolutionsgarden würde niemand mit Blumengirlanden zum Halten bringen können, die Großmacht, die die Mullahs im Schutz des Krieges errichtet hatten, würde von keinen traditionellen Liedern auf den Plätzen der Stadt zu brechen sein.
21
In der dritten Woche nach Babaks Verschwinden kam die Kirschblüte über Tokio, und Frau Safureh wies uns auf die Sakura-Festlichkeiten hin. Doch ich hatte es satt. Also ging ich morgens um halb sieben mit trüben Augen hinunter und klopfte an die Tür der alten Frau. Sie war in ein gepunktetes weißes Nachthemd und ein Tuch gehüllt. Ich schlüpfte herein und sagte zu ihr: «Schluss mit den Masken, ich will jetzt alles wissen, auch so stinkt die Situation zum Himmel.»
«Guten Morgen, Kami», antwortete sie
Weitere Kostenlose Bücher