Der geheime Basar
was nützte es mir da, in einem ausweglosen Dornendickicht herumzustochern? «Aber manchmal kehren sie nach Hause zurück», erklärte Muhammad, «kommen einfach zurück. Manchmal schon, manchmal auch nicht.»
Ich blätterte zwischen den Seiten des verkritzelten Buches. Ausgeschnittene Nachrichten. Die International Lesbian and Gay Association warnt: Iran, Mauretanien, Saudi-Arabien, Sudan, die Vereinigten Emirate, Jemen und Nigeria verhängen die Todesstrafe für gleichgeschlechtliche Beziehungen. Die Gruppe Pet Shop Boys widmen ihr Album «Fundamental» den zwei iranischen Jungen Mahmud Askari und Ajad Merhuni, die wegen des Vergehens homosexueller Beziehungen auf dem Platz der Gerechtigkeit in Meschhed aufgehängt wurden. Die London Times zitierte ein Parlamentsmitglied, Mohsen Jahawi, Vorsitzender der iranischen Delegation der internationalen interparlamentarischen Vereinigung: «Homosexuellen gebührt Hinrichtung oder Folterung, höchstwahrscheinlich beides. Solche Beziehungen sind gemäß dem Islam verboten, widersprechen der menschlichen Natur und unserer Bestimmung auf Erden. Homosexuelle unterstützen die Vermehrung nicht, Homosexuelle sind verantwortlich für Seuchen, Krankheiten, Aids.» Die Vorsitzende der britischen Delegation, die Parlamentarierin Ann Clwyd, betonte dem iranischen Kollegen gegenüber, dass seine Worte verstörend seien. «Verstörend», sagte sie. Präsident Ahmadinedschad verlautbarte, dass es im Iran keine Homosexuellen gebe.
Muhammad wollte mir seinen Drogenkaffee einflößen, er drückte mir ein Glas an die Lippen, doch ich schüttelte den Kopf. Wieso flüchtete er sich jetzt zu solchem Zeug, das uns beiden die Sinne betäuben würde? Ich brauchte ihn wach. Er sollte sich für mich anstrengen. «Nun, was soll ich tun?», fragte ich.
Er schob eine Jazzkassette in den alten Rekorder, warf sich der Länge nach über das Kissenlager auf dem Eisenbett, schloss die Augen und summte, es schien, als denke er nach, also schwieg ich, um nicht zu stören. Ich wartete. Verzweifelt setzte ich mich auf den Schemel, «Der Meister und Margarita» auf dem Boden, die Aktenmappe auf meinen Knien. Das Lied endete, danach kam noch eines, und ich versenkte mich in die Lokalisierung von Schlupfwinkeln zwischen den Zeilen der Statuten und Urteile. Man kann ihn da rausholen, dachte ich, man braucht einen Anwalt und öffentlichen Druck. Muhammad öffnete die Augen einen Spalt, beäugte mich und fragte: «Bist du immer noch da?»
Wieso erwartete er von mir, dass ich ginge? Erschrocken sagte ich: «Ich habe niemanden, der mir hilft.»
Er lächelte.
«Warum bist du so gleichgültig?»
«Das ist keine Gleichgültigkeit, einfach träger Optimismus.»
«Wieso? Wieso denn Optimismus?»
«Überbelastung», versetzte er.
Ich hatte das Gefühl, in einem Gespräch mit einem Taubstummen gefangen zu sein. Ich versuchte, zu ihm durchzudringen, doch es gelang nicht. «Kennst du Leute im Untergrund? Nicht in die mit den Orgien und Clubs, du kennst doch den echten Untergrund, den richtigen. Sie sollen mir sagen, was ich tun muss. Sie sollen uns unterstützen. Das ist eine Gelegenheit, für Gerechtigkeit zu kämpfen, für das Leben eines guten Menschen.»
«Weißt du, weshalb ich hier einhundertsieben Kerzen verteilt habe?», fragte Muhammad spöttisch.
«Ja, ich weiß, und ich weiß, dass ich nichts von den Kettenmorden gewusst habe, tut mir leid.»
«Du meinst, dass ein kompletter Untergrund von Freiheitskämpfern dasitzt und auf deinen verschwundenen Homo wartet?»
«Was soll ich denn machen, Muhammad, ich bin nun mal zurückgeblieben, ich habe von vielen Dingen, die passiert sind, nichts gehört, die Oppositionszeitungen sind geschlossen worden, niemand hat berichtet, ich war noch ein Kind. Es ist unlogisch, dass du Babak wegen meiner Unwissenheit nicht helfen willst.»
«Du denkst, dass jetzt, wo dein Homo verschwunden ist, ein kompletter Untergrund aufsteht und auf die Straße geht? Nach dreißig Jahren?» So schnauzte Muhammad mich an, überheblich und demütigend. Ich ließ ihn, denn ich brauchte Hilfe. Nilu hatte ja gesagt, dass Muhammad berühmt für seine Unduldsamkeit sei, auf seine wilde und eigene Art jedoch gutherzig und manchmal hilfsbereit. «Es gibt eine lange Schlange», sagte er dann.
«Von Schwulen?», wunderte ich mich.
«Von Leuten.» Er hob «Der Meister und Margarita» auf, legte mir das Buch auf den Schoß und blätterte bis zur ersten Seite zurück. «Lies, lies laut und von Anfang
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