Der geheime Basar
berührt, bist du weich, du bist weich in den Ohren, zum Beispiel, wirklich. Ich liebe die kleine Kerbe, die du über der Oberlippe hast. Genau genommen deinen ganzen Mund, jemand hat dir da eine wellenförmige Linie hingemalt, die sich überall auf- und abkräuseln und sich verkrümmen kann, sodass ich dir immer an den Lippen ablesen kann, was du fühlst.»
«Das klingt für mich aber eher wie eine ziemlich hässliche Beschreibung!»
Sie lächelte und fuhr fort. «Ich liebe es, dass du listig bist, und du hast diese klitzekleine Verzerrung in deinen Grübchen, die das verrät, damit sich niemand täuscht. Ich liebe es, dass du nicht verdorben worden bist.»
Ich fühlte mich geschmeichelt. Und wartete auf die Wirkung der Droge. Und ich hatte überhaupt keine Angst, war befreit und zuversichtlich, fühlte mich wie jemand, der ein behütetes, abgeschirmtes Paarleben führt, ein ruhiger kleiner Staat von zwei Menschen, sie und ich, die nichts mit dem zu tun hatten, was außerhalb geschehen mochte, unabhängig von Gesetz und Menschen waren. Ich ließ meine Finger tief in sie hineingleiten, spürte, wie sie sich wand unter meinen Händen, außer Kontrolle. Bis sie gelöst war.
«Spürst du schon eine Wirkung? Denkst du irgendwas?», fragte ich Nilu.
«Nein. Du?»
«Sollten wir komische Sachen denken?»
«Es würde dir guttun, an komische Sachen zu denken.»
«Woran denkst du?»
«Ich habe keine besonderen Gedanken in solchen Augenblicken.»
«Vielleicht sollte man an Tiere denken?»
«Erwarte nicht, wie ein Koalabär hier an die Decke zu schwingen, Kami, das passiert nicht bei diesem Stoff.»
«Ich glaube, ich denke an Ameisen. Ich glaube, das ist das Erste, das mir in den Kopf kommt. Ameisen. Denkst du auch?»
«Nein. Warum Ameisen?»
«Ameisen sind etwas Merkwürdiges. Es gibt eine Königin in jedem Staat. Und es gibt Männchen, die eine Sekunde nach dem Hochzeitsflug verenden. Und es gibt eine komplette Kolonie von Arbeiterinnen, Millionen Arbeiterinnen, die keine Flügel haben, sich nicht vermehren können, und die ihr ganzes Leben in Sklaverei verbringen. Die Königin füttern, die Männchen der Königin füttern, den Bau säubern, das Terrain erweitern und die Feinde bekämpfen. Sie schuften nur, das ist alles. Stell dir die kämpfenden Heere vor, die Fühler, die tasten und sich über den Geruch verständigen. Der Geruch markiert den Essenspfad oder eine Gefahr, sogar die Erregung der Liebe. Kannst du sie vor dir sehen?»
«Das hat nichts mit dem Stoff zu tun, Kami, du erfindest einfach was.»
«Wie dumm und unlogisch es ist, dass es überhaupt ein solches Geschöpf gibt. Es ist traurig.»
«Wenn dich Ameisen traurig machen, denk an ein fröhliches Tier. Es gibt viele fröhliche Tiere, Kami.»
«Eine kriechende Ameise, die unter den Lasten in die Knie geht. Eine kleine Ameise in einer Reihe von Milliarden gehorsamer Soldatinnen. Sie hat nichts Besonderes an sich, aber versuch sie mal mit einem Wasserstrahl im Küchenbecken wegzuspülen, und du wirst sehen, wie sie sich mit zwei eigensinnigen Vorderbeinen am Abflusssieb festklammert und kämpft, sich mit letzter Hoffnung festhält, darum fleht, auf der Erdoberfläche zu bleiben, nur damit sie weiterarbeiten kann bis zum Tod. Warum? Was veranlasst sie dazu?»
«Bist du sicher, dass du Ameisen meinst?»
«Eine Frau aus Masuleh, nicht weit von meiner Heimatstadt, hat ihren Mann und beide Kinder bei einer Überschwemmung verloren. Sie ist völlig allein, hat keinen Grund zu bleiben. Die Welt zieht sie in das Abflussloch, und sie krallt sich mit den Fingernägeln fest, will mit ihren dürftigen Kräften weitermachen. Warum? Wer hat jemals gesagt, es sei edler Heldenmut, sich festzuhalten und weiterzumachen? Das ist es absolut nicht. Mich ekelt dieser Trieb an, Überleben um jeden Preis.»
Nilu richtete sich ein wenig auf, besorgt, legte sich mit ihrem ganzen Körper auf mich und ihre Lippen an meine. «Aber du und ich, Kami, wir werden hervorragende Gründe haben, wenn wir uns am Abflusssieb festhalten und darum kämpfen, oben zu bleiben. Wir haben massenhaft Gründe.»
«Das wirklich Sonderbare ist, Nilu, wenn du und ich und alle Menschen von hier verschwinden würden, wir allesamt von der Erdoberfläche getilgt würden, würde der Planet sich weiter auf seiner Bahn bewegen. Aber wenn die Ameisen und die Insekten sich aus dem Staub machen würden, würden die ökologischen Systeme zusammenbrechen und ganze Gattungen wegfallen, ausgelöscht werden.
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