Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der geheime Basar

Der geheime Basar

Titel: Der geheime Basar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ron Leshem
Vom Netzwerk:
jungen, benebelten Obdachlosen. «Ja, aber es ist weit, zu weit», antwortete er. Also hielt ich, um eine Rast einzulegen.
    Der große Marmorvorplatz am Eingang zum Mellat-Park lag still und verlassen da. Ich fand es beängstigend hineinzugehen, aber ich betrat ihn dennoch. Der Geruch nach Wasser von den Fontänen der Springbrunnen ließ Einsamkeit in mir aufsteigen. Auch nach nasser Vegetation, Parfüm und Verführung roch es dort. Ich sah Paare, die sich auf dem Gras zusammenkuschelten, in feuchten, dunklen Ecken flüsterten. Ein Mädchen auf einer Bank hatte ihren Kopf auf das Knie eines Jungen gelegt, hielt seine Hand, sang ihm etwas vor. Das war verboten. Ein Junge berührte ein Mädchen, und es waren keine Sittenpolizisten da, die sie in einen Streifenwagen gesteckt hätten. Glänzend gegeltes Haar, manchmal eine gepiercte Augenbraue. Ich sah auch zwei Männer, die sich hinter einer alten Lokomotive aus dem 19. Jahrhundert küssten, auf der anderen Seite des Teichs, Boote, Jungs, die miteinander im Breakdance konkurrierten, gegen vier Uhr morgens, und einen Granatapfelsaftstand, der durchgehend geöffnet war.
    Ein Tag und ein paar Stunden trennten mich von der Katschian-Brücke in Bandare Anzali. Ich spürte Amir noch immer neben mir, als wären wir noch dort, und er hinge kopfüber mit mir über dem blauen Eisengeländer, wölbte die Augenbrauen wie ein Tiger und sagte: «Ich bleibe.» Als er das sagte, stockte mir der Atem, und das Blut gerann mir in den Adern. Ich sagte zu ihm: «Das lass ich dir nicht durchgehen, du hast bloß Angst, das ist normal, aber keine Bange, wir sind zu zweit.» Ich versuchte, ihn zu überzeugen, doch während ich ihn anblickte, wusste ich, es war verlorene Mühe. «Warum?», fragte ich verzweifelt.
    «Ich werde religiös», antwortete er.
    «Was für ein Blödsinn, das passiert doch nicht so plötzlich!»
    «So ganz plötzlich nicht. Den ganzen Sommer habe ich mit mir gekämpft.»
    «Den ganzen Sommer? Wir waren den ganzen Sommer zusammen. Wenn du nur etwas gesagt hättest, Amir Teimuri, hätten wir zusammen gekämpft.»
    «Aber ich musste allein mit mir ringen», entschuldigte er sich.
    Dann hatte ich die Brücke verlassen. Ich wollte davonrennen, doch aufgeben wollte ich nicht, also ging ich langsam, damit er mir nachgelaufen käme. Amir versuchte, mich zu umarmen, doch ich stieß ihn zurück. Er sagte: «Ich dachte, es sei besser, bis zum letzten Moment zu warten, auch für dich. Anscheinend habe ich nicht gewusst, wie ich es sagen soll.» Ich schwieg den ganzen Kai entlang. Danach setzte ich mich auf die Mauer der Schahada-Jungenschule, Amir war mir auf den Fersen und wartete auf ein Zeichen der Versöhnung. «Du bist zum Medizinstudium zugelassen worden», sagte ich, «welcher Mensch verzichtet auf ein solches Privileg? Was ist los mit dir? Wer hat dich verletzt? Wer hat dir das Herz gebrochen?»
    «Nein, das ist es wirklich nicht.»
    «Also was dann?» Ich konnte es nicht begreifen. Und ich machte mir Sorgen, denn Amir und ich waren uns so ähnlich. Wenn ich wütend auf ihn war, dann nur, weil ich ihn verstand, und je mehr ich ihn verstand, desto wütender wurde ich – im Prinzip auf mich selbst. Wie war er mir also plötzlich verlorengegangen, ausgerechnet als es schien, dass unser Leben kurz vor dem großen Absprung stand? Ich sagte zu ihm: «Vertrau mir, ich habe schon Nachforschungen für uns alle beide angestellt. Verlass dich auf mich, wir sind erwachsen geworden, bald sind wir Männer, für denkende Menschen wie uns gibt es keine alleinige Wahrheit, es gibt keinen richtigen und falschen Weg, du und ich, wir müssen sämtliche Wege testen, wir sind Erfahrungssammler, hast du das vergessen? Wir sind Menschen, Amir, die immer alles sowohl vorwärts als auch rückwärts bedenken, dafür und dagegen, hin- und hergerissen; sicher, dass jede Erklärung ihre Widerlegung hat, das ist es, was ich an uns mag.»
    «Wenn ich dir wichtig bin, musst du es verstehen», bat er. «Ich muss mich selbst prüfen, das ist alles, an einer religiösen Hochschule studieren, es ausprobieren. Es kann sein, dass es vorübergehend ist. Verzeih mir.»
    «Glaube ist etwas für die Schwachen, Amir, das ist keine Weisheit, sondern hilft dem Menschen, es sich leichter und das Leiden einfacher zu machen. Das ist nichts für uns. Das ist Betrug, eine Droge.»
    Und ich war wütend auf mich selbst, wie hatte ich die Zeichen übersehen können? Wieso war ich nicht rechtzeitig da gewesen, um ihn zu

Weitere Kostenlose Bücher