Der geheime Basar
stützen? Schließlich hatte er bereits im Frühling, bei den Proben für die Abschlussfeier der Schule, sein Lammgesicht verzogen, wenn ich über die Schülerinnen im hinteren Teil des Busses redete oder über meine Nachbarin Schirin. In mir hatte sich der seltsame Verdacht geregt, dass er vielleicht keine Mädchen mehr mochte oder eifersüchtig war. «Ich hab’s satt, nur in meinem Innern zu lieben, Amir, ich muss etwas tun. Mit Mädchen, meine ich», hatte ich gesagt. Wieso war ich nicht darauf gekommen, dass es die Religion war, die aus seinen Augen sprach? Danach wurde er plötzlich unvorhersehbar, fing an, komische Sätze abzulassen, nebulöse Antworten zu geben. Ich fragte immer: «Wie steht’s mit dir, schwarzer Panther?» Und er antwortete: «In dieser Sekunde ist das Leben so lala, aber du weißt ja, wie das läuft, gestern war es beschissen, vorgestern entnervend, vorvorgestern wunderbar und morgen ist es gar nicht schlecht.» Ich befürchtete, in den Fluss zu fallen vor lauter Lachen. Woher kam dieser abgehobene Unfug? «Du bist ein kleiner Junge», schrie ich ihm immer wieder zu, «du bist ein Kind, also rede wie ein Kind.» Er ist offenbar aufgeregt, beruhigte ich mich, wie auch nicht? Schließlich sind demnächst die Koffer gepackt, wir gehen weg. «Verzeih mir», bat er. Und ich bemühte mich. Und war mir nicht schlüssig, wer schuld war. Und dachte an das unglaubliche Bedürfnis zu glauben, und wie mir Teheran gerade ruiniert worden war und die Reise an die Küsten Goas oder nach Malaysia. Und dass das vielleicht das Ende für uns beide war, denn ich dachte hauptsächlich an mich, als Amir sagte, er sei gläubig geworden. Ich wollte nicht allein gehen. «Das war’s also? Wir trennen uns einfach?», fragte ich ergeben. «Es wird alles gut», versprach er. Was sonst wissen Männer beim Abschied zu versprechen? Er klopfte mir auf die Schulter, packte meinen Nacken und sagte: «Wir sehen uns bald.»
Herr Ali Samimi sagte immer: «Das Wichtigste im Leben ist, dass ihr Erfahrungen sammelt. Und die Reue beschränkt, auch das ist das Wichtigste im Leben, dass ihr nicht ewig beklagt, dass es zu spät ist.» Viele Dinge waren das Wichtigste in seinem Leben – es war am wichtigsten, immer rechtzeitig wegzugehen, am wichtigsten, schlechte Erinnerungen auszuradieren oder sie in gute zu verwandeln. Doch das Schlimmste im Leben – da gab es nur eins, und das wechselte Herr Ali Samimi niemals aus – am schlimmsten im Leben war es, sich nach dem zu sehnen, was man fast, aber doch nicht war. Er sagte immer: «Nur Vögel ziehen von der Stadt des Regens fort», korrigierte sich dann sofort erschrocken und sagte: «Ihr zwei seid Vögel, zieht fort.»
Ich strampelte auf Babaks Fahrrad durch den sanften Schein der Straßenlaternen, in einem Teheran, das sich weigerte schlafen zu gehen. Hätte Amir das gesehen oder davon gewusst, wäre er sicher von dem Unfug kuriert worden, hätte keinen Augenblick gezögert, mir geschrieben: «Halt mir einen Platz frei, mein Freund, ich bin gleich da.» Ich musste ihn zu einem Besuch überreden. Und ich kroch zurück zu Zahras Haus, auf Pfaden mit Akazien, Platanen und Jacarandas, die sich durch die Betonlagunen wanden. Sie war grüner, als ich sie mir vorgestellt hatte, diese Stadt, auch fröhlicher. Seltsam. Es steckt viel Liebe in ihr, dachte ich.
Und dann traf ich die Prinzessin der Freiheit.
4
Als die erste Vorlesung in Roboterbau zu Ende war, rannte mir Nilufar Chalidian auf der Treppe nach, und obwohl sie «Soheil» rief – der Dozent hatte mich Herr Soheil genannt –, dachte ich nicht, dass sie mich meinte. Ich beschleunigte den Schritt, den Blick auf das graue Eisengeländer geheftet. «Soheil, warte einen Augenblick», rief sie, während sie mich überholte. Dann lächelte sie und stellte sich vor: «Nilufar», als ob irgendjemand das nicht wüsste. «Ja, klar, ich weiß», entfuhr es mir, während ich sie mit Staunen betrachtete, unfähig zu entscheiden, welches Gesicht ich aufsetzen sollte. Ihre Stimme versuchte ein schüchternes Zittern zu kaschieren, konnte es sein, dass sie unsicher war? Sie regulierte ihren Atem und sagte: «Keine Sorge, ich bin es gewöhnt, Jungen nachzurennen.» Frauen war es verboten, auf den Korridoren der Universität zu rennen, das war als zu erotisch eingestuft worden, also sagte ich: «Pass auf, es wäre gar nicht schön, wenn sie dich verhaften würden», und bereute es auf der Stelle, hoffte, sie würde nicht daraus schließen,
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