Der geheime Basar
lang und fremd, mit dem knappen Lächeln, als spräche sie zu sich selbst – und warum eigentlich nicht, so viele Jahre hatte sie Gespräche in einer Spiegelblase geführt. Schwarze Ringe waren unter ihren Augen eingeprägt, doch es umhüllte sie noch immer der zarte Geruch eines kleinen Mädchens.
Das Mädchen auf dem Bücherregal heftete einen provozierenden Blick auf mich, gefangen in einem Bild aus den Siebzigern, in kräftigen Farben, jedoch ohne Fokus, sie hatte Mitleid mit mir oder bettelte, ich möge mich ihrer erbarmen und sie in meine Phantasien aufnehmen. Ich nahm sie mit in mein Zimmer, um sie aus der Nähe zu betrachten und nachzudenken. Ein dünnes, poliertes Gesicht, demütige Augen, glänzend vor Schlichtheit, betäubt von der Welt, von allem Guten. Ich würde ihr gerne Glück bescheren, dachte ich, doch diese Augen waren auch ohne mich glücklich – sie hatten ein ganzes reiches Leben vor sich, ich würde nicht dabei sein. Woran dachte sie? Sie war süß. Das Traurige an ihr war auch anziehend. Wenn ich nur dabei gewesen wäre, vielleicht hätte ich sie nicht aufgeben lassen, doch sie existierte nicht mehr, man hatte sie ausgelöscht. Ich hatte Mitleid, hauptsächlich mit mir selbst.
Ich legte die «Erinnerungen an die Zukunft» auf die Kommode neben dem Bett und suchte nach einem Weg, Energie loszuwerden. Die Erlebnisse der letzten vierundzwanzig Stunden vibrierten in mir. Ich zog meine Windjacke an und ging auf die Straße hinunter, nahm Babaks Fahrrad und fuhr los. Die Bäume auf dem Weg nach Norden waren unlogisch verteilt – uneinheitlich in Höhe und Stammumfang, es schmerzte in den Augen. Ich trudelte zwischen ihnen hindurch, ertrank in Nebelpfützen zwischen Mondschatten, segelte mit den trockenen Blättern, die betrübt auf den verödeten Bürgersteig taumelten. Ich war wie ein verwirrter Junge, der sich im Dunkeln verlieren will. Ich wusste nicht, wohin ich fuhr, kannte den Weg zurück nicht, doch das unruhige Lächeln eines neuen Anfangs trieb mich vorwärts. Jugendliche auf Skateboards zogen mich zur Jordanstraße. Eine Stauwelle kroch langsam dahin, vielleicht mit Absicht. Man pfiff, hupte, von Fenster zu Fenster tauschte man Blicke aus – und Telefonnummern, Mailadressen, Pläne für den Rest der Nacht. Schals flatterten im Wind, Rapper präsentierten sich in den Gassen, schöne Schaufenster erhellten mit ihrer Beleuchtung Galerien, Boutiquen, Blumenstände. Zwei Jahre lang hatte ich Stadtpläne gesammelt, die Jordanstraße neongelb markiert – dort war die Jugend, dort war man in –, hatte Bilder im Netz studiert, gesehen, wie das Leben tobte, und nun war sie wirklich fast so, nur der Geruch war anders, als ich ihn mir ausgemalt hatte. Man nannte sie jetzt Africa Expressway, die Regierung hat den Namen geändert, doch niemand schert sich darum, man liebt die Jordan. Hübsche Mädchen warfen mir Blicke zu, ich schlug die Augen nieder. Die lange, gerade Straße ließ den vitalen Geist der Stadt unter meine Haut dringen, setzte mich zum ersten Mal in die Spur meines neuen Lebens. Gegenüber dem Fitnessstudio an der Mirdamad-Brücke spähte ich in das Café Chocolate Snake, in einen erstickend kleinen Raum, in dem es keinen Sitzplatz gab, was gerade der Kick war, man redete im Stehen und lernte Mädchen kennen. Ich stand herum und schwieg, doch als die Stars der Ersten Liga im Lamborghini vorfuhren, schloss auch ich mich der Offensive an – wie konntet ihr der gegnerischen Mannschaft erlauben, unsere Liga zu dominieren? Und wenn ihr auch die Asienmeisterschaft geholt habt, ja und?
Von dort wand sich die Jordanstraße zu den reichen Vierteln hoch, und damit hatte es sich. Was folgte, waren bereits Dorfgassen, die wie ein Bild aus einer anderen Geschichte wirkten, Pfade, die zum Kamm hinaufkletterten, eine Kette massiver, bedrohlicher Felsfalten, auf die bald der Schnee fallen würde, der die dichtgedrängten Rinnen füllen und die Gipfel weicher zeichnen würde. Eine Stadt, eingesperrt zwischen Bergen. Und die Berge bremsen ihre weitere Ausbreitung, ersticken sie, denn Ruß und Nebel können nirgendwohin entweichen, der Smog sinkt auf sie nieder.
Ich wischte ein paar kalte Schweißtropfen ab und drehte mit dem Fahrrad um, schlitterte zum zentralen Boulevard hinunter, der früher Pahlavi hieß, danach Mossadeq und jetzt Vali Asr, nach dem Mahdi, dem zwölften Imam, der erscheinen und die Erlösung bringen wird. «Ist das der Weg zur Gandhistraße?», fragte ich einen
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