Der geheime Brief
glaube. Oder dass ich mich für eine Hellseherin halte. Wenn ich das wäre, würde ich sicher nicht hier sitzen und über Vorahnungen reden, sondern das alles
für mich behalten. Ich muss nur daran denken, seit ich heute Morgen diesen Brief gelesen habe.«
Niklas begann, den Zeitungsausschnitt zu studieren. Die weißen Strähnen, die sich unter seine dunklen Haare mischten, waren zahlreicher als erwartet. Aber er würde auch als Rentner noch diesen fülligen Schopf haben. Wenn er so lange lebte. Dieses verdammte »wenn«, das jetzt zu ihrem Standardwortschatz gehörte.
»Du hast recht. Was für Anzeigen«, sagte Niklas nach einer Weile und drehte eine Seite um, damit auch sie lesen konnte.
Petroleumöfen und Petroleumherde für die Bauernschaft. Mädchenstiefel und weiße Damenschuhe in reichhaltiger Auswahl im Schuhladen Otto. Kriegsversicherungen inklusive Kaperrisiko. Automobile, Armierungseisen, Soda. Große Partien Grammophonnadeln. Alte Gebisse gesucht. 50 Öre bis 1 Krone pro Zahn. Sommersprossensalbe Nera, Kr. 2,50. Dörräpfel zu 1,40 kr pro Kilo.
»Und hör dir das an. ›Schreibmaschine Regina mit lesbarer Schrift, sauber und in jeder Hinsicht erstklassig, aber dennoch preiswert. Konfirmierte Knaben werden ab sofort in Göteborgs Tapetenfabrik eingestellt.‹ Oder hier. ›Tüchtige Arbeiterinnen und kleine Mädchen werden ab sofort in der Waschanstalt Glora eingestellt. Die Herren Seekapitäne … junge Dame geschickt in Buchführung … stille Dame sucht Heuer …‹ Einfach phantastisch! «
Niklas vertiefte sich wieder in die Anzeigen. Sie selbst fand eine Seite mit der Schlagzeile »Weltkrieg«. Danach folgte der Artikel:
Die große Nordseeschlacht. Unterschiedliche Angaben über die Verluste. Englands Verluste an Fahrzeugen vier- bis fünfmal so groß wie die der Deutschen. Beide Seiten halten sich für den Sieger.
Ausführliche deutsche Presseberichte. Deutsche Erfolge gegen die Engländer bei Ypern und gegen die Franzosen bei Verdun. Deutscher Durchbruch bei der Festung Vaux. Neue österreichische Erfolge gegen die Italiener. Neue russische Offensive gegen Österreich gestartet.
Eine Schlagzeile mitten im lodernden Krieg. Montag, der 5. Juni 1916. Sie blätterte weiter in dem Stapel. Es gab noch weitere Artikel über die Schlacht am Skagerrak.
Unter den von Makrelenfischern geborgenen fünf Toten waren vier Deutsche und ein Engländer. Darunter offenbar zwei Offiziere. Der eine, ein Deutscher, hatte eine schwere Kopfverletzung. Die übrigen waren ebenfalls verletzt. Die Beerdigung findet statt…
»Wie schrecklich. Offenbar haben Fischer hier an der Westküste in ihren Netzen Leichen gefunden. Von einer Schlacht draußen auf der Nordsee.«
Sie reichte Niklas den Ausschnitt, und er las die Mitteilung.
»Darüber steht auch hier etwas«, sagte er und zog eine andere Zeitungsseite hervor.
Tag für Tag werden aus dem gesamten Schärengürtel neue Leichenfunde gemeldet. Entweder werden die toten Seeleute von Wind und Strömung auf Inseln an Land geworfen, oder Fischer berichten, dass sie draußen auf See zahlreiche Tote auf die schwedische Küste zutreiben sehen. Es wurden inzwischen so viele Leichen gefunden, dass der Platz auf den Friedhöfen nicht reichen könnte …
Er las weiter und schaute dann auf.
»Das müssen sehr viele Tote gewesen sein.«
»Ja. Denk an die Angehörigen, die im Ungewissen blieben. Vermutlich wussten sie von der Seeschlacht, aber nicht, wo ihre Verwandten geendet sind.«
Sie spürte die Erschöpfung, die sie immer und überall überkommen konnte. In der Stille hörte sie das Schweigen und wollte nicht an Krieg denken.
»Bitte, Niklas, kannst du mir nicht etwas vorspielen?«
»Apropos Erster Weltkrieg?«
»Apropos, weil ich bald ins Bett muss.«
»Meinetwegen nicht.«
»Ich bin schon arg müde.«
Niklas stand auf und ging ins Wohnzimmer. Sie blieb sitzen und starrte in die Flamme der Kerze, die Niklas angezündet hatte. Petroleumherd. In welcher Finsternis sie damals gelebt hatten. Aber was konnte sie über dieses Leben wissen. Außer, dass es um Lebende und Tote ging, genau wie heute.
Als sie die Musik hörte, wagte sie nicht, sich umzudrehen, aus Angst, dass sie aufhören könnte. Die Geige und Niklas, Niklas und die Geige. Er hatte aufgehört, weil er nicht mehr besser werden konnte.
Nachdem der letzte Ton verklungen war, hatte sie keine Kraft mehr. Er musste ihr den alten Dufflecoat anziehen und auf dem Weg zur Fähre nach Marstrandsön ihren Arm
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