Der geheime Garten
Springseil mit rot-blauen Griffen! Mutter rief: Halt, Mann, halt! Wieviel kostet es?
Er sagte: Ein Twopence. Und Mutter kramte in ihrer Schürze und sagte zu mir: Martha, du hast mir deinen Lohn gegeben. Du bist ein gutes Mädchen. Ich weiß, du hast nichts dagegen, wenn ich einen Twopence von deinem Verdienst nehme und dem Kind ein Seil kaufe. Das sagte Mutter, und hier ist es.«
Sie hatte es unter ihrer Schürze versteckt und brachte es stolz zum Vorschein. Es war ein starkes, geschmeidiges Seil mit Griffen, die mit roten und blauen Streifen verziert waren. Aber Mary Lennox hatte noch nie in ihrem Leben ein Springseil gesehen. Sie betrachtete es erstaunt.
»Wozu ist das?« fragte sie neugierig.
»Wozu?« lachte Martha. »Soll das heißen, daß man in Indien vor lauter Elefanten und Tigern und Kamelen nicht weiß, was ein Springseil ist? Paß mal auf!«
Sie lief in die Mitte des Zimmers, nahm in jede Hand einen Griff und sprang, sprang, sprang, während Mary sie verständnislos anstarrte. Was dem Mädchen aus der Moorhütte wohl einfiel, solche Dinge vor ihrer Nase zu tun! Das Interesse und die Neugier in Marys Gesicht machten Martha Spaß, und sie sprang und sprang und zählte und zählte — bis hundert! Dann machte sie Schluß.
»Ich könnte noch länger springen«, sagte sie. »Bis fünfhundert konnte ich springen, als ich zwölf war. Da war ich noch nicht so dick wie jetzt. Und ich hatte viel Übung.«
Mary erhob sich von ihrem Stuhl. »Es sieht wundervoll aus«, sagte sie. »Deine Mutter ist eine nette Frau. Meinst du, ich könnte eines Tages auch so gut springen?«
»Du mußt es versuchen«, sagte Martha und drückte ihr die Griffe in die Hand. »Zuerst kannst du nur bis hundert springen. Aber wenn du übst, kommst du höher. Das hat Mutter auch gesagt. Nichts wird ihr besser tun als Seilspringen. Es ist das vernünftigste Spielzeug für ein Kind. Laß sie in den Garten laufen und Seilspringen. Das wird ihre Arme und Beine strecken und kräftiger machen. «
Es stellte sich heraus, daß Marys Arme und Beine nicht besonders stark waren, als sie nun den ersten Versuch mit dem Seil machte. Sie war auch nicht besonders geschickt. Aber sie war so begeistert, daß sie gar nicht mehr aufhören wollte.
»Zieh deinen Mantel an und spring draußen weiter«, sagte Martha. »Mutter meinte, du müßtest soviel wie möglich draußen sein, auch wenn es ein bißchen regnen sollte. Natürlich mußt du dich warm anziehen.«
Mary nahm Mantel und Mütze und das Seil. Sie öffnete schon die Tür, um hinauszugehen, als ihr plötzlich etwas einfiel. Langsam drehte sie sich um.
»Martha«, sagte sie, »es war dein Lohn. Eigentlich war das Geld von dir. Ich danke dir.« Sie sagte es steif, weil sie nicht gewohnt war, einem Menschen zu danken oder auch nur zu bemerken, daß jemand etwas für sie getan hatte. »Danke«, flüsterte sie und streckte ihre Hand aus, weil sie nicht wußte, was sie sonst tun sollte.
Martha schüttelte ihr ein bißchen unbeholfen die Hand. Dann lachte sie. »Du bist ein drolliges, steifes Ding! Lisa-Ellen hätte mir bestimmt einen Kuß gegeben.«
Mary stand steifer da als je zuvor. »Willst du, daß ich dich küsse?«
Martha lachte wieder. »Nein, das nicht! Geh jetzt raus und spiel mit deinem Seil.«
Mary fühlte sich ein wenig verlegen, als sie aus dem Zimmer ging. Die Leute aus Yorkshire kamen ihr seltsam vor. Martha würde wohl immer ein Rätsel für sie bleiben. Zuerst hatte sie sie nicht gemocht, aber jetzt war alles ganz anders.
Das Seil war etwas Wundervolles. Sie zählte und sprang und sprang und zählte, bis ihre Wangen rot wurden. Die Sonne schien, ein weicher Wind wehte. Er nahte mit kleinen sanften Stößen und brachte den Duft von frisch gepflügter Erde mit. Sie sprang um den Springbrunnen, dann einen Gartenweg hinauf und einen anderen zurück. Schließlich hüpfte sie in den Gemüsegarten und sah Ben Weatherstaff. Er grub mit seinem Spaten und unterhielt sich mit Robin, der um ihn herumtanzte. Sie sprang den Gartenweg entlang auf Weatherstaff zu. Mary wollte, daß er sah, wie schön sie Seilspringen konnte.
»Nun«, rief er, »du bist ja tatsächlich ein richtiges Kind mit Blut und nicht mit Buttermilch in den Adern. Du hast rote Backen gekriegt, so wahr ich Ben Weatherstaff heiße. Ich hätte nicht geglaubt, daß du so etwas fertigbringst.«
»Ich habe noch nie vorher Seil gesprungen«, sagte Mary. »Ich fange gerade erst an. Ich komme bloß bis zwanzig, mehr schaffe ich
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