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Der geheime Garten

Der geheime Garten

Titel: Der geheime Garten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frances Hodgson Burnett
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noch nicht.«
    »Mach nur weiter«, sagte Ben Weatherstaff. »Du kannst es schon sehr gut für ein Kind, das bei den Heiden aufgewachsen ist. Sieh mal, wie er dich beobachtet«, sagte er und deutete mit dem Kopf auf Robin. »Gestern ist er hinter dir her gewesen. Heute wird es wieder so sein. Jetzt will er unbedingt herausfinden, was ein Springseil ist. Er hat noch nie eins gesehen. He«, wandte er sich an das Rotkehlchen und schüttelte den Kopf, »eines Tages wird dir deine Neugier den Tod bringen, wenn du nicht vorsichtig bist.«
    Mary wippte und sprang durch den ganzen Gemüsegarten, dann rund um den Obstgarten. Alle paar Minuten mußte sie sich ein wenig ausruhen. Schließlich ging sie zu dem Weg, der den geheimen Garten entlangführte. Sie versuchte das Stück ganz ohne Pause zu schaffen. Es war ein gutes Stück Wegs, und sie begann langsam. Aber noch ehe sie die Hälfte der Strecke hinter sich gebracht hatte war sie so erhitzt und atemlos, daß sie einhalten mußte. Sie war nicht sehr böse darüber, denn sie hatte schon bis dreißig gezählt. Mit einem vergnügten Auflachen hielt sie an, und da saß wahrhaftig das Rotkehlchen auf der Mauer. Es war Mary gefolgt und begrüßte sie zwitschernd. Mary lachte Robin an.
    »Gestern hast du mir gezeigt, wo der Schlüssel lag«, sagte sie. »Heute müßtest du mir eigentlich das Tor zeigen, aber ich glaube nicht, daß du weißt, wo es ist!«
    Das Rotkehlchen flog auf die höchste Kante der Mauer. Es öffnete seinen Schnabel und sang und trillerte lieblich, um sich hervorzutun.
    Mary Lennox hatte in den Geschichten, die Ayah ihr in Indien erzählt hatte, viel von Zauberei gehört. Was sich hier in diesem Garten nun ereignete, erschien ihr — wie sie später immer wieder erzählte — wie reinste Zauberei. Ein kleiner sanfter Windstoß wehte durch den Gartenweg, ein bißchen kräftiger als gewöhnlich. Er war aber stark genug, um heftig in die Baumkronen zu fahren und die ungeschnittenen Efeuzweige, die die Mauer hinunterhingen, zu zerzausen. Mary stand nahe bei Robin. Plötzlich riß der Windstoß ein paar hängende Efeuranken gerade vor ihr zur Seite. Und ebenso plötzlich packte Mary blitzschnell zu und hielt die Zweige fest. Sie hatte unter den Ranken etwas gesehen — einen runden Knauf, der von den darüberhängenden Zweigen verdeckt gewesen war. Es war eine Türklinke.

Das merkwürdige Haus
    Das süßeste, geheimnisvollste Fleckchen Erde, das man sich vorstellen kann, war dieser Garten. Die hohen Mauern, die ihn umgaben, waren mit blattlosen Stämmen von Kletterrosen bedeckt, die ganz ineinander verflochten waren. Mary Lennox wußte, daß es Rosen waren, denn sie hatte in Indien viele Rosen gesehen. Der Boden des Gartens war mit winterlich braunem Gras bedeckt, in dem kleine Büsche standen — sicher Rosenbüsche. Aber ob sie noch Leben in sich hatten? Da waren auch hochstämmige Rosen, so hoch gewachsen, daß sie wie kleine Bäume aussahen. Es gab auch andere Bäume im Garten. Das besondere daran war, daß die Kletterrosen auch an ihnen emporgerankt waren und nun wie sanfte Vorhänge herniederwehten. Hier und da hatten sie sich von einem Baum zum anderen verfangen, so daß sie kleine Hängebrücken bildeten. Augenblicklich trugen die Ranken weder Blätter noch Rosen, und Mary zweifelte wieder, ob noch Leben in ihnen sein mochte. Das feine Grau der Zweige und Zweiglein wirkte wie ein nebelhaftes Gewebe, das sich über alles legte, über Mauern und Bäume. Es kroch sogar über das braune Gras. Dort, wo die Zweige ihren Halt verloren hatten und heruntergefallen waren, wucherten sie auf dem Boden weiter. Dieser Rosenteppich gab dem Garten ein geheimnisvolles Aussehen. Mary hatte gewußt, daß dieser Garten anders sein würde als die übrigen Gärten, schon weil er so lange sich selbst überlassen geblieben war. Er war nun aber überhaupt ganz anders als alles, was sie in ihrem Leben jemals gesehen hatte.
    »Wie still es ist«, flüsterte sie. »So still!«
    Sie horchte auf die Stille. Das Rotkehlchen, das jetzt auf der Spitze eines Baumes saß, schwieg wie alles andere ringsherum. Es bewegte nicht einmal seine Flügel, es saß unbeweglich und schaute auf Mary hinab.
    »Kein Wunder, daß es so still ist«, flüsterte sie wieder. »Ich bin seit zehn Jahren der erste Mensch, der hier spricht.«
    Sie bewegte sich langsam vorwärts und trat dabei so sachte auf, als fürchtete sie, jemanden aufzuwecken. Sie war froh, Gras unter ihren Füßen zu haben, so wurde ihr Gang

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