Der geheime Garten
sich beschäftigen konnte, begann sich ihre Einbildungskraft mit dem Garten zu befassen. Gewiß hatte die scharfe, reine Luft, die vom Moor herüberwehte, auch etwas damit zu tun. Der Kampf mit dem Wind machte sie hungrig und regte ihre Phantasie an.
Sie steckte den Schlüssel in die Tasche und ging den Weg auf und ab. Außer ihr schien niemals jemand hierherzukommen. Daher konnte sie ganz langsam immer wieder an der Mauer entlanggehen und die Efeuranken, mit denen sie bewachsen war, eingehend betrachten. Der Efeu war verwirrend. Wie sorgfältig sie auch hinschauen mochte, sie sah nichts als schwere Ranken und glänzende, dunkelgrüne Blätter. Sie war sehr enttäuscht. Es war lächerlich, dachte sie, so nah dran zu sein und doch nicht imstande, einzudringen. Sie behielt den Schlüssel in der Tasche, als sie ins Haus zurückging, und sie nahm sich vor, ihn immer bei sich zu tragen, wenn sie ausging, damit sie, falls sie doch gelegentlich das Tor fände, gleich hineingehen konnte.
Mrs. Medlock hatte Martha erlaubt, die Nacht über zu Hause zu bleiben. Aber am anderen Morgen war sie schon wieder bei der Arbeit. Ihre Backen waren röter als zuvor, und sie war in bester Stimmung.
»Ich bin um vier Uhr aufgestanden«, sagte sie. »Es war hübsch im Moor. Die Vögel wachten gerade erst auf, und die Kaninchen huschten umher im ersten Morgenlicht. Ich brauchte nicht den ganzen Weg zu gehen. Ein Mann hat mich auf seinem Ackerwagen mitgenommen, und auch das war schön.«
Sie war voll von Geschichten über ihren freien Tag. Ihre Mutter hatte sich gefreut, sie zu sehen, und sie waren zusammen mit dem Waschen und dem Backen gut fertig geworden. Sie hatte sogar für alle Geschwister einen kleinen Kuchen mit braunem Zucker gebacken.
»Sie waren noch ganz heiß, als die Kinder vom Spielen hereinkamen. Die ganze Hütte roch nach heißen Kuchen. Ein schönes Feuer brannte. Die Kleinen schrien vor Freude. Dickon sagte, unsere Küche wäre sogar für einen König gut genug.«
Am Abend saßen sie alle um das offene Feuer. Martha und ihre Mutter hatten zerrissene Kleidchen geflickt und Strümpfe gestopft. Martha erzählte ihren Geschwistern von dem kleinen Mädchen, das aus Indien gekommen war und das von den Eingeborenen, die Martha kurzweg »die Schwarzen« nannte, so bedient worden war, daß es sich nicht einmal die eigenen Strümpfe anziehen konnte.
»Sie hörten gerne, was ich von dir erzählte«, sagte Martha. »Sie wollten alles über die Schwarzen wissen und über das Schiff, mit dem du gekommen bist.«
Mary überlegte ein bißchen. »Bevor du nächstes Mal hingehst, werde ich dir eine Menge erzählen, damit du noch mehr sagen kannst. Sicher würden sie gern von Elefanten hören, auf denen man reiten kann, und von den Männern, die auf die Tierjagd gehen.«
»Worauf du dich verlassen kannst!« rief Martha. »Willst du mir wirklich davon erzählen? Das wäre so interessant wie die wilden Tiere, die wir mal in York gesehen haben.«
»Indien ist ganz, ganz anders als Yorkshire«, sagte Mary sinnend. »Haben deine Mutter und Dickon auch gern zugehört, als du von mir erzählt hast?«
»Dickon fielen die Augen aus dem Kopf, sie wurden ganz rund«, sagte Martha. »Aber Mutter war ganz außer sich darüber, daß du so allein bist.
Sie sagte: Hat denn Mr. Craven keine Erzieherin oder ein Kindermädchen für sie bestellt? Und ich sagte: Nein, das nicht, obwohl Mrs. Medlock gesagt hat, er wollte eine bestellen, wenn er dran dächte. Aber in den nächsten zwei oder drei Jahren wird er wohl nicht dazu kommen.«
»Ich möchte keine Gouvernante«, sagte Mary scharf.
»Mutter sagte, lesen könntest du sicher schon, aber du brauchtest eine Frau, die sich um dich kümmert. Denk mal, Martha, sagte sie zu mir, wie würde dir wohl zumute sein in dem großen Haus, ganz allein. Und du hättest keine Mutter. Tu dein Bestes, um die Kleine aufzuheitern. Ja, das sagte sie, und ich will es auch tun.«
Mary sah sie lange abwägend an. »Du heiterst mich auf. Ich höre dich gern erzählen.«
»Was glaubst du?« sagte Martha schmunzelnd. »Ich hab' dir ein Geschenk mitgebracht.«
»Ein Geschenk?« rief Mary. Wie konnte aus einer Hütte mit vierzehn hungrigen Leuten ein Geschenk kommen!
»Der Mann mit dem Karren, der Sachen verkauft, kam gerade bei unserem Haus vorbei. Er hatte Töpfe und Pfannen und allerlei Kram, den wir nicht kaufen können, weil wir kein Geld haben. Er wollte schon wegfahren, da rief Lisa-Ellen: Mutter, er hat ein
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