Der geheime Garten
lautlos. Sie ging auf eine Schaukel zu, die, aus Rosenzweigen gebildet, zwischen den Bäumen hing, und schaute hinauf, den Zweigen und Ranken entlang, aus denen sie bestand.
»Ich glaube eigentlich nicht, daß sie ganz tot sind«, sagte sie. »Oder sollte hier alles abgestorben sein?«
Wäre sie Ben Weatherstaff gewesen, hätte sie feststellen können, in welchen Pflanzen noch Leben war. Sie sah nur graue und braune Zweige und keine Knospen. Jedenfalls aber war sie endlich in dem geheimen Garten. Und sie konnte das Tor unter dem Efeu wiederfinden und hereinkommen, so oft sie nur wollte. Sie hatte das Gefühl, eine ganze Welt, ihre eigene Welt gefunden zu haben.
Die Sonne leuchtete zwischen den vier Mauern. Der hohe Himmel wölbte sich blau darüber. Das Rotkehlchen flog herab und hüpfte hinter Mary her von einem Rosenbusch zum anderen. Sonst aber war alles sehr seltsam still. Sie schien meilenweit von allen Menschen entfernt zu sein, fühlte sich aber trotzdem nicht einsam. Wie gern hätte sie gewußt, ob die Rosen tot waren oder ob wenigstens einige von ihnen Blätter und Knospen tragen würden, sobald das Wetter wärmer wurde. Wie wunderbar mußte das sein. Tausende von Rosen würden an allen Ecken blühen!
Das Springseil hing über ihrem Arm, seit sie den Garten betreten hatte. Nachdem sie eine Weile hin und her gegangen war, entschloß sie sich, durch den ganzen Garten zu springen und immer dort anzuhalten, wo es etwas Besonderes zu sehen gab. Man konnte noch ein paar Gartenwege erkennen; in einigen Winkeln befanden sich Lauben mit steinernen Sitzen und hohen, moosbedeckten Blumentöpfen.
Als sie zu einer der Lauben kam, hielt sie an. In der Mitte mußte ein Blumenbeet gewesen sein. Sie bemerkte, daß etwas aus der schwarzen Erde hervorguckte — kleine, bleiche, hellgrüne Spitzen. Sie erinnerte sich an das, was Ben Weatherstaff gesagt hatte, und kniete nieder, um genauer hinzusehen.
»Ja, das sind Pflanzen, vielleicht Krokusse oder Schneeglöckchen oder Narzissen«, flüsterte sie. Sie beugte sich tief hinab und schnupperte an der feuchten Erde. Sie liebte den Geruch.
»Vielleicht kommen auch an anderen Stellen Blumen hervor«, sagte sie. »Ich will durch den ganzen Garten gehen und nachschauen.«
Sie sprang jetzt nicht, sie ging langsam und hielt die Augen auf den Boden geheftet. Sie suchte zwischen dem Gras nach Blumenbeeten. Als sie ihren Rundgang beendete, hatte sie eine ganze Menge lebender Stauden entdeckt und war ganz aufgeregt. »Der Garten ist nicht tot«, rief sie. »Selbst wenn die Rosen abgestorben sind, andere Blumen sind lebendig.«
Mary verstand nichts von Gartenarbeit, aber an einigen Stellen schien das Gras so dicht zu sein, daß die kleinen, grünen Triebe nicht Platz genug hatten, um sich zu entwickeln. Sie sah sich um, bis sie ein scharfes Stück Holz fand. Sie kniete nieder und grub und riß Gräser aus, damit die Stauden Platz genug hatten.
»So, jetzt können sie atmen«, sagte sie, als sie mit dem ersten Stück fertig war. »Ich will noch viel mehr machen. Was ich heute nicht fertig bekomme, will ich morgen tun.«
Sie ging von einer Stelle zur anderen, riß Unkraut aus und grub. Es machte ihr so viel Spaß, daß sie von einem Beet gleich zum nächsten hinüberwechselte. Dabei wurde ihr so warm, daß sie ihren Mantel ausziehen mußte.
Mary arbeitete in ihrem Garten, bis es Mittag wurde. Tatsächlich fiel ihr ziemlich spät ein, daß es Zeit zum Essen war. Sie nahm ihren Mantel und ihren Hut und konnte sich gar nicht vorstellen, daß sie zwei oder drei Stunden gearbeitet hatte. Sie war die ganze Zeit über glücklich gewesen. Viele winzige hellgrüne Blattspitzen reckten sich an den gesäuberten Stellen hoch; sie sahen viel kräftiger aus als zuvor, da sie noch von Gras und Unkraut bedrängt gewesen waren.
»Heute nachmittag komme ich wieder«, sagte sie zu den Bäumen und Rosensträuchern. Dann rannte sie leichtfüßig über das Gras, stieß das alte Tor auf und schlüpfte durch den Vorhang aus Efeu. Sie hatte so rote Backen und blitzende Augen, und sie aß so tüchtig zu Mittag, daß Martha ganz begeistert war. »Zwei Stück Fleisch und zwei Portionen Pudding!« rief sie in ihrem Eifer.
»Mutter wird sich freuen, wenn sie hört, wie gut dir das Seilspringen tut«, sagte Martha.
Während Mary mit ihrem spitzen Holz in der Gartenerde gestochert hatte, war ihr eine weiße Wurzel aufgefallen, die wie eine Zwiebel aussah. Sie hatte sie sorgfältig wieder mit Erde zugedeckt.
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