Der geheime Garten
und nachdenklich wurde. Martha blieb bis zum Tee bei ihr, und sie saßen friedlich da und sprachen wenig. Aber gerade ehe Martha hinunterging, um das Teetablett zu holen, stellte Mary eine Frage.
»Martha«, sagte sie, »hat das Spülmädchen heute wieder Zahnschmerzen gehabt?«
Martha erschrak ein wenig. »Wie kommst du denn jetzt darauf?« fragte sie.
»Weil ich die Tür aufgemacht habe, als ich so lange auf dich wartete. Und dann bin ich durch den Korridor gegangen, um zu sehen, ob du kommst. Und da habe ich aus der Entfernung wieder das Schreien gehört, das wir in der Nacht vernommen hatten. Heute ist kein Wind. Der Wind kann es also nicht gewesen sein.«
»Hm«, sagte Martha unruhig, »du darfst nicht durch die Korridore laufen und lauschen. Wenn Mr. Craven das erfährt, wird er furchtbar zornig, und ich weiß nicht, was er mit dir machen wird.«
»Ich habe nicht gelauscht«, sagte Mary. »Ich habe nur auf dich gewartet — und da hörte ich es wieder. Jetzt schon zum drittenmal.«
»Meine Güte, da läutet Mrs. Medlock«, sagte Martha und rannte aus dem Zimmer.
»Es ist das merkwürdigste Haus, das man je gesehen hat«, sagte Mary schläfrig und legte ihren Kopf auf das Seidenkissen. Die frische Luft, das Graben, das Seilspringen, alles zusammen hatte sie so müde gemacht, daß sie einschlief.
Dickon
Die Sonne schien fast eine Woche lang täglich in den geheimen Garten. »Geheimer Garten« nannte Mary ihn in Gedanken. Sie liebte den Namen. Aber sie liebte noch mehr das Gefühl, daß wirklich niemand wußte, wo sie war, wenn seine schönen alten Mauern sie umschlossen. Es war, als lebte sie jenseits der Welt in einem Zauberreich. Die wenigen Bücher, die sie gelesen und geliebt hatte, waren Märchenbücher gewesen, und in manchen war von geheimnisvollen Gärten die Rede. Manchmal hatten Menschen hundert Jahre lang darin geschlafen, was sie ziemlich dumm fand. Sie wollte nicht im Garten schlafen, im Gegenteil, sie wurde mit jedem Tag, den sie in Misselthwaite verbrachte, wacher. Sie war jetzt sehr gern draußen; sie haßte den Wind nicht mehr, sie hatte ihn sogar recht gern. Sie konnte länger und schneller laufen, und beim Seilspringen gelangen ihr schon hundert Sprünge. Die Knollen im geheimen Garten mußten höchst erstaunt darüber sein, daß sie so schön gesäubert dastanden und Platz genug zum Atmen fanden. Wie Mary vermutet hatte, begannen sie sich unter der Erde zu regen und arbeiteten sich tüchtig aus dem Boden heraus. Die Sonne konnte sie nun erreichen und erwärmen, und wenn Regen fiel, konnte er sie gleich tränken. So fingen sie an, sich recht munter zu fühlen.
Mary war eigentlich ein energisches Persönchen, und da sie jetzt etwas entdeckt hatte, wofür es sich lohnt, energisch zu sein, war sie sehr beschäftigt. Sie arbeitete, grub und zupfte unentwegt Unkraut aus. Sie wurde von der Arbeit immer mehr besessen und konnte nicht genug bekommen davon. Ihr kam das alles wie ein herrliches Spiel vor. Sie fand viel mehr Blumentriebe, als sie zu entdecken gehofft hatte. Sie schienen überall zu sein, und jeden Morgen war sie sicher, daß sie neue entdecken würde. Manche waren so klein, daß sie kaum aus der Erde hervorguckten. Schließlich waren es so viele, daß Mary sich daran erinnerte, wie Martha einmal von Tausenden von Schneeglöckchen erzählt hatte und von Knollen, die sich ohne Hilfe weiter verbreiteten. Diese hier waren zehn Jahre lang sich selbst überlassen geblieben, und vielleicht hatten sie sich wie die Schneeglöckchen tausendfach vermehrt. Sie überlegte, wie lange es wohl noch dauern würde, bis sie blühten. Manchmal machte sie eine kleine Pause und überschaute den Garten, und sie träumte davon, wie er aussehen würde, wenn alle Blumen blühten.
In dieser sonnigen Woche wurde sie vertrauter mit Ben Weatherstaff. Sie überraschte ihn ein paarmal damit, indem sie plötzlich neben ihm auftauchte. Denn sie fürchtete, er würde, wenn er sie rechtzeitig bemerkte, seine Gartengeräte nehmen und sich aus dem Staube machen. Eigentlich war er gar nicht so sehr gegen sie, wie es anfangs schien. Vielleicht fühlte er sich sogar ein wenig geschmeichelt, daß sie immer wieder seine Nähe suchte. Jedenfalls war er ein bißchen zugänglicher geworden. Sie ahnte nicht, daß sie damals mit ihm geredet hatte, als hätte sie einen Eingeborenen vor sich. Sie hatte nicht gewußt, daß ein aufrechter, alter Mann aus Yorkshire nicht daran dachte, vor »Seiner Herrschaft« mit Verbeugungen
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