Der geheime Garten
Kannst du eigentlich einen Brief schreiben?« fragte sie plötzlich.
»Natürlich kann ich einen Brief schreiben«, antwortete Mary.
»Nein, nein«, Martha schüttelte den Kopf, »unser Dickon kann nur Druckbuchstaben lesen. Wenn du Druckbuchstaben schreiben kannst, könnten wir ihm einen Brief schreiben und ihn bitten, daß er für uns Gartengeräte und Samen kauft.«
»Oh, du bist großartig!« rief Mary. »Wirklich, das bist du. Erst dachte ich gar nicht, daß du so nett wärest. Ich kann bestimmt Druckbuchstaben schreiben, wenn ich es versuche. Wir wollen Mrs. Medlock fragen, ob sie uns Tinte, Feder und Papier geben will.«
»Habe ich selbst«, sagte Martha. »Ich habe es gekauft, um manchmal sonntags für Mutter ein paar Zeilen zu schreiben. Ich geh' und hole es.«
Sie rannte aus dem Zimmer, und Mary stand vor dem offenen Feuer und rieb sich ihre schlanken Finger vor Vergnügen.
»Wenn ich einen Spaten hätte, könnte ich den Boden viel besser bearbeiten und alles locker und weich machen. Wenn ich Samen hätte, könnte ich Blumen ziehen, und dann wäre der Garten bestimmt nicht tot — im Gegenteil, er würde ganz lebendig.«
Am Nachmittag ging sie nicht mehr hinaus, weil Martha, nachdem sie Tinte, Feder und Papier gebracht hatte, in die Küche gerufen wurde, wo sie Geschirr spülen mußte. Und nachher gab ihr Mrs. Medlock neue Aufträge. Es schien Mary, die auf Martha wartete, eine Ewigkeit, bis diese endlich zu ihr zurückkehrte. Dann kam das schwierige Stück Arbeit, an Dickon zu schreiben. Mary hatte ziemlich wenig gelernt, weil keine ihrer Erzieherinnen bei ihr hatte ausharren wollen. Im Rechtschreiben war sie nicht besonders gut, aber sie brachte es doch fertig, Druckbuchstaben zu schreiben. Der Brief, den Martha ihr diktierte, lautete so:
Mein lieber Dickon, dieses Schreiben erreicht Dich in der Hoffnung, daß du Dich wohl fühlst, so wie es bei mir zur Zeit der Fall ist. Miß Mary hat viel Geld und möchte, daß Du nach Thwaite gehst und Samen und Gartengeräte kaufst, um ein Blumenbeet zu machen. Suche die schönsten aus, und sie müssen sich leicht aufziehen lassen, denn sie hat es bis jetzt nie getan und hat in Indien gelebt, das ist verschieden. Grüß Mutter und die anderen alle. Miß Mary wird mir noch eine Menge von Indien erzählen, so daß ich Dir an meinem nächsten freien Tag viel mehr sagen kann über Elefanten und Kamele und von Herren, die auf Löwen- und Tigerjagd gehen.
Deine Dich liebende Schwester
Martha Phoebe Sowerby
»Wir stecken das Geld in den Briefumschlag, und ich gebe ihn dem Jungen vom Metzger. Der kann ihn auf seinem Karren mitnehmen. Er ist ein Freund von Dickon«, sagte Martha.
»Wie soll ich die Sachen denn herbekommen, wenn Dickon sie gekauft hat?«
»Die wird er selber bringen, er macht den Weg sehr gern.«
»Oh«, sagte Mary, »dann werde ich ihn ja sehen! Ich dachte, ich würde Dickon nie zu sehen bekommen!«
»Möchtest du ihn denn gern sehen?« fragte Martha plötzlich, denn Mary hatte so begeistert ausgesehen.
»O ja, ich habe noch nie einen Jungen gesehen, den Füchse und Krähen lieben. Ich möchte ihn schrecklich gern sehen.«
Martha gab sich einen Ruck, als erinnerte sie sich plötzlich an etwas.
»Nein«, sagte sie, »wie konnte ich denn das nur vergessen! Ich wollte es dir schon heute morgen sagen. Ich habe Mutter gefragt, und sie meinte, du solltest Mrs. Medlock selber darum bitten...«
»Ich verstehe nicht«, sagte Mary.
»Ich meine, was ich Dienstag sagte, du mußt sie fragen, ob du zu unserer Hütte fahren darfst. Du sollst Mutters heißen Haferkuchen mit Butter kosten und ein Glas frischer Milch dazu trinken.«
Es war, als ob alle interessanten Dinge sich an einem einzigen Tag ereignen sollten. Sich vorzustellen, daß sie am hellichten Tag über das Moor fahren würde, wenn der Himmel blau war! Sich auszudenken, daß sie in die Hütte ginge, in der zwölf Kinder waren!
»Glaubt deine Mutter, daß Mrs. Medlock es mir erlaubt?« fragte Mary ängstlich.
»Aber ja, sie meint, sie würde es tun. Mrs. Medlock weiß, was für eine ordentliche Frau meine Mutter ist und wie sauber sie unsere Hütte hält.«
»Wenn ich hinfahren dürfte, dann würde ich deine Mutter und Dickon kennenlernen«, sagte Mary nachdenklich. Je mehr sie darüber nachdachte, desto besser gefiel ihr der Plan.
»Sie muß ganz anders sein als meine Mutter in Indien.«
Ihre Arbeit im Garten und der aufregende Nachmittag bewirkten, daß sie schließlich ganz still
Weitere Kostenlose Bücher