Der geheime Garten
nahm ein Paketchen, das in braunes Papier gewickelt war, aus seiner Jackentasche. Er löste die Bindfäden, und nun kamen Tüten zum Vorschein. Auf jeder Tüte war ein Blumenbild.
»Es ist viel Mohn dabei und Reseda, das so schön duftet. Beides wird überall wachsen, wohin du den Samen wirfst, das geht auf und blüht.«
Er schwieg und wandte den Kopf. Sein Gesicht strahlte. »Woher kennst du das Rotkehlchen, das uns ruft?« fragte er.
In einem dicken Holunderbusch zwitscherte ein Vogel. Seine Weste war scharlachrot. Mary wußte, wer es war.
»Ruft er uns wirklich?« fragte sie.
»Bestimmt«, sagte Dickon, als wäre das die natürlichste Sache von der Welt. »Er ruft jemand, mit dem er befreundet ist. Er sagt: Hier bin ich! Schau mich an! Ich möchte ein bißchen schwatzen. Da drüben ist er, im Busch. Wer ist sein Freund?«
»Eigentlich Ben Weatherstaff, aber ich glaube, mich kennt er auch ein bißchen.«
»Und ob er dich kennt!« sagte Dickon wieder mit seiner dunklen Stimme. »Und er liebt dich. Er liebt dich sogar sehr. Gleich wird er mir alles über dich erzählen.«
Er ging auf den Busch zu und zwitscherte fast wie das Rotkehlchen. Einen Augenblick lang hörte der Vogel genau zu, dann antwortete er.
»Ja, ja«, kicherte Dickon, »er ist ein Freund von dir.«
»Glaubst du wirklich?« fragte Mary eifrig. Sie wollte es so gern wissen. »Glaubst du wirklich, daß er mich leiden mag?«
»Er käme dir nicht so nah, wenn er dich nicht möchte. Vögel sind wählerisch; einem Menschen, den sie nicht leiden können, gehen sie aus dem Weg. Jetzt kommt er näher. Siehst du ihn?«
»Verstehst du denn alles, was Vögel sagen?« fragte Mary.
Dickons Lächeln wurde noch breiter, bis man nur noch seinen lachenden Mund zu sehen meinte.
»Ich glaube, daß ich alles verstehe«, sagte er. »Mit ihnen zusammen lebe ich nun schon lange Zeit im Moor. Ich beobachte sie, wenn sie aus dem Ei schlüpfen, wenn sie flügge werden, wenn sie zu singen anfangen. Solange ich zurückdenken kann, bin ich mit ihnen zusammen. Manchmal glaube ich, ich bin selber ein Vogel oder ein Fuchs oder ein Kaninchen oder ein Eichhörnchen oder gar ein Käfer und weiß es bloß nicht.«
Er lachte, kam zu dem Baumstumpf zurück und redete wieder über den Blumensamen. Er beschrieb ihr die Blumen, die aus dem Samen kommen würden, brachte ihr bei, wie sie sie säen und später umpflanzen und sorgfältig beachten, pflegen und begießen sollte.
»Weißt du, was«, sagte er zu ihr, »ich will sie gern für dich aussäen. Wo ist dein Garten?«
Mary schlug die Hände zusammen. Sie wußte nicht, was sie antworten sollte. Eine volle Minute lang sagte sie gar nichts. Daran hatte sie nie gedacht. Ihr wurde bange. Und sie hatte das Gefühl, daß sie abwechselnd rot und blaß wurde.
»Du hast doch einen kleinen Garten, nicht?«
Sie war wirklich verlegen geworden. Dickon sah es, und als sie noch immer nichts sagte, wurde auch er verwirrt.
»Oder wollen sie dir keinen geben?« fragte er. »Hast du noch keinen?«
Sie preßte die Hände fester zusammen und sah ihn an.
»Ich kenne keine Jungen«, sagte sie langsam. »Könntest du ein Geheimnis bewahren, wenn ich es dir anvertraute? Es ist ein großes Geheimnis. Ich weiß nicht, was ich täte, wenn es herauskäme. Ich glaube, ich würde streben.« Den letzten Satz sagte sie grimmig.
Dickon sah sie verwundert an und strich mit seiner rauhen Hand über seine Stirn, aber er antwortete munter: »Ich bewahre Geheimnisse immer. Wenn ich ein Geheimnis vor anderen Leuten nicht hüten könnte, Geheimnisse über Füchse, Vogelnester, Höhlen und anderes, dann würden die Tiere im Moos nicht mehr sicher leben. O ja, ich kann ein Geheimnis bewahren.«
Mary wollte ihre Hand eigentlich gar nicht ausstrecken und auf seinen Arm legen, aber sie tat es.
»Ich habe einen Garten gestohlen«, sagte sie sehr schnell. »Er gehört nicht mir. Er gehört keinem Menschen. Niemand will ihn haben, keiner kümmert sich um ihn, keiner geht hinein. Vieleicht ist alles darin schon tot, ich weiß es nicht.«
Sie wurde ganz heiß und so trotzig, wie sie früher immer gewesen war.
»Mir ist es gleich«, sagte sie. »Es macht mir nichts aus, daß ich ihn gestohlen habe. Niemand darf ihn mir wegnehmen, wenn ich mich um ihn kümmere, was sie ja nicht tun. Sie lassen alles sterben, alles überlassen sie sich selbst«, sagte sie leidenschaftlich und fing heftig zu weinen an.
Dickons erstaunte blaue Augen wurden immer runder. »So ist das —
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