Der geheime Garten
niemanden.«
»Ja«, sagte Ben Weatherstaff langsam, »da hast du recht.«
Er sagte das so seltsam, als wäre er um ihretwillen ein bißchen traurig. Sie hatte nie Mitleid mit sich selbst gehabt. Sie hatte sich nur müde gefühlt oder schlechter Laune, weil sie die Menschen und ihre Umgebung nicht mochte. Aber allmählich schien die Welt sich zu verändern, sie wurde schöner. Wenn niemand ihr Geheimnis herausfinden würde, konnte sie sich in ihrem Garten immer wohl fühlen.
Mary blieb noch eine Viertelstunde und stellte viele Fragen. Er beantwortete jede in seiner brummigen Art. Aber er schien nicht ärgerlich zu sein. Ehe sie ihn verließ, sagte sie:
»Hast du dich in diesem Jahr schon um die Rosen der Dame gekümmert?«
»Noch nicht«, brummte er. »Mein Rheumatismus macht mich zu steif in den Gelenken.«
Plötzlich schien er ärgerlich zu werden. »He!« sagte er, »du sollst nicht zu viele Fragen stellen. So wie du hat mich noch nie ein kleines Mädchen ausgefragt. Geh jetzt und spiele. Für heute habe ich genug geredet.«
Und er sagte es so schroff, daß es keinen Sinn hatte, noch länger zu bleiben. Sie hüpfte mit ihrem Seil langsam den Steinpfad entlang und dachte verwundert, daß sie auch Ben Weatherstaff liebte, obwohl er so brummig war. Ja, sie mochte ihn. Und sie versuchte so gern, ihn zum Reden zu bringen. Sie war überzeugt, daß er alles wußte über die Blumen.
Ein Weg, der von Lorbeerbüschen umsäumt war, führte um ihren Garten herum und endete an einem großen Tor, und hinter dem Tor lag der Wald. Sie wollte auf diesem Weg Seilspringen und dann in den Wald hineinschauen. Vielleicht gab es dort Kaninchen. Das Springen gefiel ihr gut.
Als sie an das große Tor kam, öffnete sie es und ging ein Stückchen weiter, weil sie ein seltsames Geräusch hörte. Es war ein ganz besonderes Pfeifen. Sie wollte herausfinden, was es war.
Plötzlich hielt sie den Atem an, stand still und staunte. Ein Junge saß unter einem Baum. Er lehnte sich mit dem Rücken an den Stamm und blies auf einer Holzflöte. Ein seltsam aussehender Junge! Vielleicht zwölf Jahre alt. Er sah sehr sauber aus, hatte eine Stupsnase, seine Backen waren so rot wie Äpfelchen. Nie zuvor hatte Mary so runde, blaue Augen gesehen. Am Baumstamm, an den sich der Junge lehnte, hing ein Eichhörnchen und beobachtete ihn. Und vor ihm, neben einem Busch, stand ein Fasan und streckte sanft den Kopf vor, um besser sehen zu können. Ganz dicht vor ihm saßen zwei Kaninchen und schnupperten eifrig mit bebenden Nasen — es sah wahrhaftig so aus, als wären sie alle herbeigekommen, um dem Flötenspieler zuzuhören.
Als der Junge Mary sah, hob er seine Hand und sprach zu ihr mit einer Stimme, die so sanft und zugleich so heiser klang wie seine Flöte.
»Rühr dich nicht«, sagte er, »sonst fliehen sie.«
Mary stand reglos. Er hörte auf zu pfeifen und erhob sich. Dabei bewegte er sich ganz langsam; man meinte, er rührte sich überhaupt nicht. Schließlich aber stand er auf den Füßen. Das Eichhörnchen kletterte in das Geäst zurück, der Fasan zog seinen Kopf ein, die Kaninchen hoppelten davon. Aber alle schienen kein bißchen erschrocken zu sein.
»Ich bin Dickon«, sagte der Junge. »Ich weiß, du bist Mary.«
Auch Mary hatte sofort gewußt, daß der Junge Dickon war. Wer anders konnte Kaninchen und Fasanen verzaubern, so wie die Eingeborenen in Indien Schlangen beschwörten! Er hatte einen breiten, geschwungenen Mund, und sein Lächeln erhellte sein ganzes Gesicht.
»Ich bin so langsam aufgestanden«, sagte er, »weil man sie erschreckt, wenn man sich hastig bewegt. Man muß ganz sanft umgehen mit Tieren, die nicht gezähmt sind, und immer sehr leise reden.«
Er sprach zu ihr, als hätte er sie nicht eben zum erstenmal gesehen, sondern als wären sie alte Bekannte. Mary kannte keine Jungen und sprach ein bißchen steif mit ihm, weil sie verlegen war.
»Hast du Marthas Brief bekommen?« fragte sie.
Er nickte mit seinem lockigen, rostroten Kopf. »Darum bin ich hier.«
Er hob etwas auf, das neben ihm gelegen hatte.
»Ich hab' die Gartengeräte mitgebracht. Das ist ein kleiner Spaten! Und dies ist eine kleine Harke. Und hier eine Spitzhacke. Sie sind in Ordnung. Dies ist eine Maurerkelle. Die Frau im Laden hat noch ein Tütchen dazugegeben, als ich den Samen kaufte.«
»Würdest du mir die Tüten zeigen?« fragte Mary eifrig.
»Setzen wir uns doch auf diesen Baumstumpf und schauen wir alles an.«
Sie setzten sich, und er
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