Der geheime Garten
darüber reden hören. Er haßt mich.«
»Er haßt auch den Garten, weil sie starb.«
»Welchen Garten?« fragte der Junge.
»Ach — irgend so ein Garten, den sie besonders gern hatte«, stotterte Mary. »Bist du immer hier gewesen?«
»Fast immer. Ein paarmal haben sie mich an die See gebracht. Aber da wollte ich nicht sein, weil die Menschen mich anstarrten. Ich mußte einen eisernen Halter tragen, um meinen Rücken geradezurichten. Aber ein berühmter Doktor ist aus London gekommen, mich zu untersuchen. Und er hat gesagt, der Halter wäre dumm. Sie mußten ihn abnehmen. Er sagte, ich müßte an die frische Luft. Aber ich will nicht draußen sein.«
»Zuerst, als ich hierherkam, wollte ich auch nicht«, sagte Mary. »Warum guckst du mich so an?«
»Weil Träume oft so echt sind«, antwortete er. »Manchmal, wenn ich meine Augen öffne, kann ich gar nicht glauben, daß ich wach bin.«
»Wir sind jetzt beide wach«, sagte Mary. Sie schaute sich um und betrachtete das Zimmer mit seiner hohen Decke und dem trüben Kaminfeuer. »Es sieht fast so aus wie in einem Traum, und es ist Mitternacht. Jeder Mensch im Haus schläft — nur wir beide nicht. Wir sind ganz wach.«
»Ich möchte auch nicht, daß es ein Traum ist«, sagte der Junge unruhig.
Plötzlich fiel Mary etwas ein.
»Wenn du keinen Menschen sehen magst, dann ist es dir vielleicht lieber, wenn ich weggehe?«
Er hatte den Zipfel des Morgenmantels noch immer in der Hand und zog leicht daran.
»Nein«, sagte er, »wenn du weggehst, bin ich sicher, daß alles nur ein Traum war. Wenn du echt bist, dann setz dich auf die Fußbank und erzähle. Ich möchte etwas über dich hören.«
Mary stellte ihre Kerze auf den Nachttisch, nahm ein Kissen und setzte sich auf die Fußbank.
»Was soll ich dir denn erzählen?« fragte sie.
Er wollte wissen, wie lange sie schon in Misselthwaite war, an welchem Korridor ihr Zimmer lag, was sie tat, ob sie das Moor gern hatte oder etwa nicht leiden konnte. Wo sie gelebt hatte, ehe sie nach Yorkshire gekommen war. Sie beantwortete diese und noch weitere Fragen. Er lag in seinen Kissen und hörte gespannt zu. Sie mußte ihm von Indien erzählen und von ihrer Reise über den Ozean. Sie fand heraus, daß er manches nicht wußte, was andere Kinder wissen. Es lag an seiner Krankheit. Eine seiner Krankenschwestern hatte ihm das Lesen beigebracht, als er noch ganz klein war, und so las er viel und schaute sich Bilder an in den kostbaren Büchern, die ihm gehörten.
Obgleich sein Vater ihn selten besuchte, bekam er alle möglichen wundervollen Geschenke. Er bekam alles, wonach er verlangte, und wurde nie gezwungen, irgend etwas zu tun, das er nicht tun wollte.
»Jeder muß hier tun, was mir paßt«, sagte er gleichgültig. »Es macht mich krank, wenn ich zornig werde. Niemand glaubt, daß ich groß werde. Ich sterbe früh.«
Er sagte es in einer Weise, als wäre dieser Gedanke ihm so vertraut, daß es ihn nicht mehr berührte. Er schien den Klang von Marys Stimme gern zu haben. Während sie erzählte, horchte er interessiert und zugleich schläfrig zu. Ein- oder zweimal dachte sie, er sei eingeschlafen. Aber dann stellte er plötzlich eine neue Frage, und sie mußte weitererzählen.
»Wie alt bist du?« fragte er.
»Ich bin zehn«, sagte sie und vergaß einen Augenblick ihre Vorsicht. »Und so alt bist du auch!«
»Woher weißt du das?« fragte er überrascht.
»Weil das Gartentor verschlossen und der Schlüssel vergraben wurde, als du zur Welt kamst. Und das war vor zehn Jahren.«
Colin richtete sich halb auf und wandte sich ihr zu.
»Welches Gartentor wurde verschlossen? Wer hat das getan? Wo wurde der Schlüssel vergraben?« Er sagte es heftig.
»Es — es war der Garten, den Mr. Craven haßt.« Mary wurde nervös. »Er hat das Tor verschlossen und den Schlüssel vergraben.«
»Was ist das für ein Garten?« fragte Colin eifrig.
»Seit zehn Jahren darf kein Mensch hineingehen«, war Marys vorsichtige Antwort.
Aber es war schon zu spät. Er war ihr zu ähnlich. Auch er hatte nichts, worüber es sich nachzudenken lohnte. Der Gedanke an einen verschwiegenen Garten fesselte ihn ebenso, wie er sie gefesselt hatte. Er stellte Fragen über Fragen. Wo war der Garten? Hatte sie nie nach dem Tor gesucht? Hatte sie die Gärtner nie gefragt?
»Sie wollen nicht darüber reden«, sagte Mary. »Ich glaube, man hat es ihnen verboten.«
»Ich würde es ihnen befehlen und würde sie zum Sprechen bringen«, sagte Colin.
»Könntest
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