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Der geheime Garten

Der geheime Garten

Titel: Der geheime Garten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frances Hodgson Burnett
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hinzufahren«, fuhr Mary hartnäckig fort, »dann vielleicht — ich bin fast sicher, daß ich eines Tages herausfinde, wie man hineinkommt. Und dann könnten wir allein hineingehen, und der Garten bliebe unser Geheimnis.«
    »Das fände ich — das fände ich fein«, seine Augen schauten verträumt. »In einem geheimen Garten hätte ich nichts gegen frische Luft.«
    Mary kam wieder zu Atem und fühlte sich wohler, weil die Idee von einem Geheimnis ihm zu gefallen schien.
    »Ich will dir erzählen, wie es sein würde, wenn wir ihn fänden und hineingehen könnten«, sagte sie. »Da er so lange verschlossen gewesen ist, würden die Ranken wie dicke Vorhänge aussehen.«
    Er lag ganz still und hörte zu. Sie erzählte, wie die Rosen vielleicht von einem Baum zum anderen geklettert waren. Viele Vögel hätten dort ihre Nester angelegt. Dann berichtete sie vom Rotkehlchen und von Ben Weatherstaff. Es gab so viel von Robin zu berichten, und sie erzählte so leicht und sicher davon, daß sie ihre Angst verlor. Das Rotkehlchen gefiel ihm gut, er lächelte und sah dabei plötzlich hübsch aus. Anfänglich hatte Mary gedacht, er sei noch häßlicher als sie, mit seinen übergroßen Augen und dem vielen Haar, das ihm in die Stirn hing.
    »Ich habe nie gedacht, daß Vögel so sind«, sagte er. »Aber wenn man immer im Zimmer bleibt, sieht man natürlich nichts. Du weißt aber viel. Mir kommt es vor, als wärst du schon in dem Garten gewesen.«
    Sie wußte nicht, was sie antworten sollte. Also sagte sie lieber gar nichts. Er erwartete offensichtlich auch keine Antwort. Im nächsten Augenblick sagte er überraschend: »Ich zeig' dir etwas. Siehst du den rosa Vorhang über dem Kamin?«
    Mary hatte ihn bisher nicht bemerkt, aber sie schaute auf und sah ihn. Es war ein Vorhang aus leichter Seide.
    »An der Seite ist eine Schnur«, sagte Colin. »Geh mal und zieh dran.«
    Mary stand verwundert auf und entdeckte die Schnur. Als sie daran zog, glitt der Vorhang zur Seite und gab ein Bild frei. Es zeigte ein Mädchen mit lachendem Gesicht. Es hatte helles, blondes Haar, das von einem blauen Band zusammengehalten wurde. Ihre heiteren, lieblichen Augen waren so grau wie die traurigen Augen Colins.
    »Sie ist meine Mutter«, sagte Colin kläglich. »Ich weiß nicht, warum sie gestorben ist. Manchmal hasse ich sie, weil sie das getan hat.«
    »Wie seltsam«, sagte Mary.
    »Ich glaube, wenn sie gelebt hätte, wäre ich nicht immer krank«, zürnte er. »Ich glaube, dann könnte ich auch groß werden. Und mein Vater würde meinen Anblick nicht verabscheuen. Ich glaube wirklich, daß ich dann einen starken Rücken gehabt hätte. Zieh den Vorhang wieder zu.«
    Mary tat es und setzte sich wieder auf die Fußbank.
    »Sie ist hübscher als du«, sagte sie, »aber du hast ihre Augen. Warum hängt der Vorhang davor?«
    Er bewegte sich unbehaglich.
    »Ich habe das so gewollt. Manchmal will ich nicht, daß sie mich ansieht. Sie lächelt zuviel, wenn ich krank und elend bin. Außerdem gehört sie mir, und ich möchte nicht, daß jeder sie anschaut.«
    Einige Augenblicke lang herrschte Stillschweigen. Dann sagte Mary:
    »Was würde Mrs. Medlock tun, wenn sie herausfände, daß ich hier war?« — wollte sie wissen.
    »Sie würde tun, was ich ihr befehle«, antwortete er.
    »Und ich würde ihr sagen, daß ich dich jeden Tag sehen will, damit du mir etwas erzählst. Ich freue mich, daß du gekommen bist.«
    »Ich freue mich auch«, sagte Mary. »Ich will so oft kommen, wie ich kann, aber —«, sie zögerte, »ich muß auch jeden Tag das Gartentor suchen.«
    »Ja, das mußt du«, sagte Colin, »und nachher mußt du mir berichten.« Nachdenklich lag er wieder einige Minuten.
    »Ich glaube, du bleibst auch mein Geheimnis«, sagte er. »Ich will ihnen nicht von dir erzählen, bis sie es selbst herausfinden. Ich kann die Krankenschwester aus dem Zimmer schicken und sagen, daß ich allein sein möchte. Kennst du Martha?«
    »Ja, die kenne ich gut«, sagte Mary, »sie bedient mich.«
    Er deutete mit dem Kopf zum Korridor. »Sie schläft im nächsten Zimmer. Martha muß immer auf mich aufpassen, wenn die Krankenschwester ausgeht. Martha kann dir bestellen, wann du wieder zu mir kommen sollst.«
    Mary verstand jetzt, warum Martha so unruhig gewesen war, als sie ihr Fragen über das Weinen gestellt hatte.
    »Hat Martha die ganze Zeit von dir gewußt?« fragte sie.
    »Ja, sie pflegt mich oft. Die Schwester geht gern weg von mir, und dann kommt immer

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