Der geheime Garten
du das wirklich?« Mary stotterte, sie wurde langsam ängstlich. Wenn er die Leute zwingen konnte, was würde daraus werden?
»Jeder ist verpflichtet zu tun, was mir gefällt. Das habe ich dir schon gesagt. Wenn ich am Leben bleiben würde, dann wäre ich hier eines Tages der Herr. Das weiß jeder. Ich könnte sie zwingen, zu sprechen.«
Mary hatte nicht gewußt, daß sie schlecht erzogen worden war, aber sie spürte deutlich, daß dieser geheimnisvolle, arme Junge schlecht erzogen und verwöhnt war. Er dachte, die ganze Welt gehöre ihm. Wie eigentümlich er doch war und wie gleichgültig er über sein Leben sprach.
»Glaubst du wirklich, daß du nicht lange leben kannst?« fragte sie, teils aus Neugier, teils um seine Gedanken von dem Garten abzuwenden.
»Ich glaube, nein«, sagte er so kühl wie vorher. »Solange ich zurückdenke, habe ich die Leute sagen hören, ich könnte nicht leben. Zuerst dachten sie, ich sei zu klein, um es zu verstehen, und jetzt denken sie, ich höre nicht zu. Aber ich höre es. Der Arzt, der mich behandelt, ist ein Vetter meines Vaters. Er ist arm, und wenn ich sterbe, erbt er Misselthwaite. Ich kann mir vorstellen, wie wenig dem daran liegt, daß ich lebe.«
»Möchtest du denn leben?« fragte Mary.
»Nein«, sagte er ärgerlich und müde. »Aber ich möchte auch nicht sterben. Wenn ich mich krank fühle, liege ich und denke darüber nach, bis ich schreie und schreie. Aber laß uns von etwas anderem sprechen. Reden wir doch vom Garten. Möchtest du ihn nicht gern sehen?«
»Doch«, antwortete Mary mit leiser Stimme.
»Ich auch«, fuhr er hartnäckig fort. »Ich kann mich nicht erinnern, daß ich irgendeinmal etwas unbedingt sehen wollte, aber diesen Garten möchte ich sehen. Ich möchte, daß der Schlüssel ausgegraben wird. Sie müßten mich in meinem Rollstuhl hinfahren. Dann hätte ich frische Luft. Ich werde sie zwingen, mir das Tor zu öffnen.«
Er wurde ganz aufgeregt. Seine Augen glänzten und sahen noch größer aus als zuvor. »Sie müssen mich hinbringen, und du kommst mit.«
Mary schlug die Hände zusammen. Alles würde auf diese Art verdorben werden — alles! Dickon würde nie wiederkommen. Sie würde nie wieder wie eine Drossel auf dem versteckten Nest sein.
»Oh«, rief sie, »tu das nicht — tu's nicht, bitte!« rief sie.
Er starrte sie an, als ob er sie für irrsinnig hielte. »Warum denn?« fragte er, »du hast doch gesagt, du möchtest den Garten sehen.«
»Das stimmt«, sagte sie mit einem Schluchzen in der Kehle, »aber wenn du sie zwingst, das Tor zu öffnen und dich hinzufahren, dann wird es nie mehr ein Geheimnis sein.«
Er beugte sich vor. »Ein Geheimnis?« sagte er. »Was meinst du damit?«
Marys Worte purzelten nur so heraus. »Weißt du — weißt du, wenn nur wir davon wüßten, daß da ein Tor ist, unter Efeu ganz versteckt, wenn es eines gäbe — meine ich... Wenn wir dann zusammen hindurchkriechen würden, könnten wir hinter uns zuschließen. Niemand wüßte, daß wir drinnen wären. Wir würden ihn unseren Garten nennen und so tun, als wären wir Drosseln, und der Garten wäre unser Nest. Wir könnten da jeden Tag spielen und graben und säen und alles lebendig machen.
»Ist der Garten tot?« unterbrach er sie.
»Er wird es bald sein, wenn sich keiner um ihn kümmert«, fuhr sie fort. »Die Knollen werden sich durchsetzen, aber die Rosen —.«
»Was sind Knollen?« fragte er.
»Narzissen und Lilien und Schneeglöckchen. Sie entwickeln sich in der Erde weiter und stoßen jetzt mit kleinen Spitzen aus der Erde hervor, weil der Frühling kommt.«
»Kommt der Frühling?« fragte er. »Wie ist das? Wenn man krank im Zimmer liegt, dann sieht man den Frühling nicht.«
»Wenn die Sonne auf den Regen kommt und Regen fällt auf Sonne und die Pflanzen sich unter der Erde regen«, sagte Mary. »Wenn der Garten unser Geheimnis wäre und wir hinein könnten, würden wir beobachten, wie die Triebe von Tag zu Tag größer werden, und wir könnten sehen, wie viele Rosen noch am Leben sind. Verstehst du das? Merkst du nicht, wieviel schöner es wäre, wenn der Garten unser Geheimnis bliebe?«
Er fiel auf sein Kissen zurück und lag dort mit einem seltsamen Ausdruck im Gesicht.
»Ich habe noch nie ein Geheimnis gehabt«, sagte er. »Nur das, daß ich nicht so lange lebe, bis ich groß bin. Sie wissen nicht, daß ich es weiß, also ist es eine Art Geheimnis. Aber deines gefällt mir besser.«
»Wenn du sie nicht zwingen willst, dich
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