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Der geheime Garten

Der geheime Garten

Titel: Der geheime Garten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frances Hodgson Burnett
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erlebt habe. Ich bin selten ausgegangen, und wenn ich draußen war, habe ich nie darauf geachtet.«
    »In Indien habe ich den Frühling auch nicht erlebt. Da gibt es keinen.«
    »An dem Morgen, da du hereinkamst und riefst: Es ist soweit! , da hatte ich ein ganz merkwürdiges Gefühl. Mir war, als käme eine große Prozession auf mich zu, mit Posaunen und Trompeten. Ich habe so ein Bild in einem meiner Bücher. Man sieht frohe Leute darauf, Kinder mit Zweigen und Girlanden in den Händen. Alle lachen und tanzen und spielen auf Flöten. Drum sagte ich dir damals: Vielleicht werden wir goldene Trompeten hören. Und ich bat dich, die Fenster aufzumachen.«
    »Wie merkwürdig«, sagte Mary, »so ähnlich empfinde ich es auch. Wenn all die Blumen und Blätter, die Vögel und Tiere vorübertanzen würden, was für eine Prozession wäre das! Ich bin sicher, sie würden tanzen und singen und flöten!«
    Sie lachten beide, nicht weil sie den Gedanken komisch fanden, sondern weil er ihnen so gut gefiel.
    Wenig später machte die Krankenschwester Colin bereit. Sie bemerkte, daß er diesmal nicht einfach dalag und sich wie ein toter Klotz seine Kleider anziehen ließ. Im Gegenteil, er setzte sich auf und versuchte selbst mitanzupacken. Und die ganze Zeit plauderte und lachte er mit Mary.
    »Er hat einen guten Tag«, sagte sie zu Doktor Craven, der eben nach seinem Patienten sehen wollte. »Er ist so gut aufgelegt, daß er sich gesünder fühlt als sonst.«
    »Ich komme später am Nachmittag noch einmal vorbei, wenn er wieder im Haus ist. Ich muß wissen, wie ihm das Ausgehen bekommt. Lieber wäre es mir schon«, fügte er leise hinzu, »wenn Sie dabei sein könnten, aber schön — wir wollen das Experiment wagen. Dickon Sowerby ist ein Junge, dem ich sogar ein neugeborenes Kind anvertrauen würde.«
    Der stärkste Diener trug Colin die Treppe hinunter und setzte ihn in seinen Rollstuhl, neben dem Dickon schon wartend stand. Nachdem der Diener Kissen und Decken zurechtgelegt hatte, hob unser Rayah die Hand. Damit waren Diener und Pflegerin entlassen.
    »Ihr habt meine Erlaubnis, euch zu entfernen«, sagte er, und beide verschwanden schnell. Sie kicherten erst, als sie wieder im Hause waren.
    Dickon schob den Rollstuhl langsam und vorsichtig die Auffahrt entlang. Mary ging an seiner Seite. Colin hob den Blick. Der Himmel wölbte sich hoch über ihm, schneeweiße Wölkchen flogen wie helle Vögel mit ausgebreiteten Schwingen über die kristallene Bläue. Der Wind wehte in sanften Wellen vom Moor herüber und brachte einen herbsüßen Duft mit. Colin dehnte seine schwache Brust, um ihn einzuatmen. Seine großen Augen schienen zu lauschen.
    »So viel Gesang und Gesumme!« sagte er. »Was ist das für ein Duft, den der Wind herüberträgt?«
    »Das ist der Geruch von Ginster. Der blüht jetzt«, antwortete Dickon. »Die Bienen werden heute ihren Spaß daran haben.«
    Kein menschliches Wesen war auf den Gartenwegen zu sehen. Jeder Gärtner und Gärtnerbursche hatte den Befehl bekommen, sich fernzuhalten. Die Kinder gingen geduckt am Gebüsch vorbei, um den Springbrunnen herum und machten unnötige Wege, um ihr Geheimnis zu verschleiern. Als sie zuletzt in den großen Weg einbogen und den Efeu an den Mauern erblickten, wurden sie ganz aufgeregt. Sie wußten eigentlich selbst nicht, warum sie plötzlich nur noch zu flüstern wagten.
    »Hier ist es«, hauchte Mary. »Hier bin ich allein auf und ab gegangen und habe gesucht und gesucht.«
    »Hier, sagst du?« rief Colin und suchte die mit Efeu bewachsene Mauer mit den Augen ab. »Ich sehe nichts!« flüsterte er. »Da ist kein Tor.«
    »Das dachte ich auch«, flüsterte Mary zurück.
    Tiefe Stille folgte. Die Räder des Rollstuhls drehten sich lautlos.
    »Dort ist der Garten, wo Ben Weatherstaff arbeitete«, sagte Mary.
    »Aha«, nickte Colin.
    Ein paar Meter weiter flüsterte Mary: »Hier ist die Stelle, wo das Rotkehlchen auf die Mauer flog.«
    »Wirklich? Ach, ich hätte so gern, wenn Robin jetzt käme.«
    »Und dort«, sagte Mary freudig und zeigte auf eine Stelle unter einem Fliederbusch, »dort hockte er auf dem kleinen Erdhaufen und zeigte mir den Schlüssel.«
    Colin reckte sich.
    »Wo? Wo?« rief er. Dickon hielt an. Die Räder standen still.
    »Und hier«, fuhr Mary fort, nahe an die Mauer tretend, »hier ist die Stelle in der Mauer, zu der er mich hinlockte. Und dies ist die Efeuranke, die der Wind zur Seite drückte.«
    Sie hob den Efeuvorhang hoch.
    »Oh — wahrhaftig!«

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