Der geheime Garten
hat.«
Mr. Roach ging nicht ohne Neugier ins Haus. Er hatte den Jungen nie gesehen, aber aufregende Geschichten über ihn gehört. Man hatte ihm immer wieder versichert, daß der Junge bald sterben würde. Es gab auch Gerüchte über seinen buckligen Rücken, seine schwachen Glieder.
»Die Dinge in diesem Haus verändern sich, Mr. Roach«, sagte Mrs. Medlock, als sie ihn die Hintertreppe hinauf zum Korridor führte, an dem das geheimnisvolle Zimmer lag.
»Hoffen wir, daß sie sich zum Besseren wandeln, Mrs. Medlock«, antwortete er.
»Eine Wandlung zum Schlimmern wäre auch gar nicht mehr möglich gewesen«, fuhr sie fort. »Seien Sie aber nicht überrascht, wenn Sie sich plötzlich mitten in einer Tierschau befinden. Marthas Bruder Dickon scheint da oben das Kommando übernommen zu haben.«
Dickon schien, wie Mary fest glaubte, tatsächlich eine Art Zauberer zu sein. Als Mr. Roach jetzt seinen Namen hörte, lächelte er.
»Dickon wäre sogar im Buckingham Palast zu Hause oder auch auf der untersten Sohle eines Kohlenbergwerkes. Dabei ist er einfach und bescheiden. Ein großartiger Bursche!«
Dennoch war es gut, daß er rechtzeitig aufgeklärt worden war. Denn als die Schlafzimmertür geöffnet wurde, flog eine Krähe mit lautem »krah — krah« auf den Gast zu, und trotz Mrs. Medlocks Warnung konnte sich Mr. Roach nur durch einen Sprung rückwärts vor einem Zusammenstoß mit dem Vogel retten.
Der junge Rayah lag weder im Bett noch auf dem Sofa. Er saß in einem Sessel. Ein kleines Lamm stand neben ihm und wedelte mit dem Schwanz, wie Lämmer es immer tun, wenn sie gefüttert werden. Dickon kniete neben ihm und fütterte es mit einer Babyflasche. Ein Eichhörnchen saß auf Dickons gebeugtem Rücken und knackte eine Nuß. Das kleine Mädchen aus Indien kauerte auf einer Fußbank und schaute zu.
»Hier ist Mr. Roach, Master Colin«, sagte Mrs. Medlock. Der junge Rayah wandte sich dem Eintretenden zu und musterte seinen Diener von oben bis unten. So wenigstens empfand es der Gärtner.
»Du bist also Roach, wie?« sagte er. »Ich habe nach dir geschickt, um dir ein paar wichtige Befehle zu erteilen.«
»Sehr wohl, Sir«, sagte Roach höflich, während er sich fragte, ob man ihm vielleicht auftragen würde, sämtliche Eichen im Park zu fällen oder die Obstgärten in Teiche zu verwandeln.
»Heute nachmittag fahre ich in meinem Rollstuhl aus. Falls die frische Luft mir guttut, gehe ich von nun an jeden Tag in die Gärten. Wenn ich draußen bin, will ich keinen Gärtner sehen. Jedenfalls nicht in der Nähe der großen Mauer. Ich werde um zwei Uhr ausgehen, und alle Leute müssen sich fernhalten, bis ich die Nachricht durchgebe, daß sie wieder an ihre Arbeit gehen können.«
»Sehr wohl, Sir«, antwortete Mr. Roach, erleichtert bei dem Gedanken, daß den Eichen und den Obstgärten keine Gefahr drohte.
»Mary«, sagte Colin, zu dem Mädchen gewendet, »wie war doch der Satz, den sie in Indien sagen, wenn eine Unterredung zu Ende ist?«
»Du sagst: Ich gestatte dir, dich zu entfernen.«
»Ich gestatte dir, dich zu entfernen, Roach«, sagte Colin.
»Aber merke dir, dies ist ein wichtiger Auftrag.«
»Sehr wohl, Sir. Ich danke Ihnen, Sir«, sagte Mr. Roach, und Mrs. Medlock geleitete ihn aus dem Zimmer.
Da Mr. Roach ein gutherziger Mann war, lächelte er nur vor sich hin. Draußen im Korridor wurde sogar ein richtiges Lachen daraus.
»Auf mein Wort«, sagte er, »er hat die Manieren eines Lords, nicht wahr? Man könnte meinen, er vereine in einer Person die gesamte königliche Familie.«
»Nun«, sagte Mrs. Medlock, »seit er Füße hat, trampelt er auf uns herum. Er bildet sich ein, dafür seien wir da. Aber vielleicht überwindet er das, wenn er am Leben und das Kind aus Indien in seiner Nähe bleibt«, meinte Mrs. Medlock.
Im Krankenzimmer schaute Colin seine Freunde an.
»Jetzt ist alles sicher«, sagte er. »Und heute nachmittag werde ich ihn sehen! Heute nachmittag werde ich dort sein!«
Dickon kehrte mit seinen Tieren in den Garten zurück. Mary blieb bei Colin. Er sah nicht müde aus, aber er war sehr still, während er mit seiner Cousine zu Mittag aß.
»Was für große Augen du hast, Colin«, sagte Mary. »Wenn du nachdenkst, werden sie so groß wie Untertassen. Woran denkst du eigentlich?«
»Ich kann nicht anders, ich muß immer daran denken, wie er wohl sein wird«, antwortete er.
»Der Garten?« fragte Mary.
»Der Frühling! Ich überlege gerade, daß ich ihn eigentlich noch nie
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