Der geheime Garten
gefunden hatte. Er hatte im Moor gestanden und einer Lerche zugehört, die höher und immer höher zum Himmel aufstieg, bis sie nur noch ein winziges Fleckchen gewesen war.
»Hätte sie nicht gesungen, ich hätte sie kaum mehr gesehen. Ich wunderte mich gerade darüber, daß ich sie noch vernehmen konnte, obwohl sie doch schon fast verschwunden war — da hörte ich einen Laut in den Ginsterbüschen. Es war ein schwaches Blöken, und ich wußte gleich, daß es ein neugeborenes und hungriges Lämmchen sein mußte. Es konnte aber nur hungrig sein, wenn es seine Mutter verloren hatte. So machte ich mich auf die Suche und suchte zwischen den Ginsterbüschen. Schließlich sah ich etwas Weißes neben einem Stein liegen und fand das Kleine, halbtot vor Kälte und Angst.«
Während er sprach, flog die Krähe feierlich zum offenen Fenster hinaus und wieder herein und sagte immerzu »krah— krah«. Nuß und Schale turnten draußen in einem Baum. Kapitän lag Dickon zu Füßen, und Dickon wiederum kauerte auf dem Teppich.
Sie schauten gemeinsam die Gartenbilder in den Büchern an, Dickon kannte alle Blumen mit Namen und wußte genau, welche schon im geheimen Garten wuchsen. »Diese Namen hätte ich nicht gewußt«, sagte er und deutete auf eine Abbildung. Darüber stand der Name Aquilegia . Wir nennen sie Columbine. Und das dort ist ein Löwenmäulchen! Sie wachsen beide wild in Hecken. Das hier sind aber Gartenblumen. Sie sind größer und prächtiger. Wir haben auch Columbinen in unserem geheimen Garten. Wenn sie blühen, werden sie aussehen, wie ein großes Kissen voll blauer und weißer Schmetterlinge.«
»Ich muß sie sehen«, sagte Colin. »Wir müssen zusammen hingehen und sie ansehen.«
»Das machen wir«, sagte Mary ernst. »Und wir haben keine Zeit zu verlieren.«
Ich werde leben
Aber sie mußten länger als eine Woche warten, denn es folgten ein paar windige Tage, und Colin kämpfte gegen eine Erkältung an. Die beiden Hindernisse hätten ihn zweifellos in schlechte Laune versetzt, wenn es nicht so vieles gegeben hätte, was sorgfältig geplant werden mußte. Dickon kam jeden Tag, wenn auch manchmal nur zu einem kurzen Besuch, und erzählte, was sich im Moor, auf den Wegen, in den Hecken und am Rande der Moortümpel ereignete. Was er zu erzählen wußte, von Ottern und Bibern und Wasserratten, von den Vogelnestern, den Feldmäusen und ihren Höhlen, Löchern und Bauten, war überaus aufregend. Nur ein »Tierbeschwörer«, ein Zauberer, konnte das Leben der Tiere auf diese Weise schildern. Colin erkannte voll Staunen, mit welchem Eifer und mit welchen Ängsten die Tiere um ihr Dasein kämpfen. »Es ergeht ihnen wie uns«, sagte Dickon. »Allerdings müssen sie jedes Jahr ihr Haus von neuem bauen. Und damit haben sie so viel zu tun, daß sie sich sehr anstrengen müssen, um rechtzeitig fertig zu werden.«
Am aufregendsten war es natürlich, auszutüfteln, wie Colin von den Erwachsenen unbemerkt, in den geheimen Garten gebracht werden kann. Niemand durfte den Rollstuhl mit den Blicken verfolgen, wenn Dickon und Mary ihn um eine bestimmte Ecke herumgeschoben hatten. Sie würden ihn dann an den Efeumauern entlangfahren. Dabei durften sie nicht mehr beobachtet werden. Im Lauf der folgenden Tage verfiel Colin auf die Idee, daß die Efeumauern zum Zauber ihres Geheimnisses gehörten. Niemand sollte sie dort sehen. Niemand durfte ahnen, daß sie ein Geheimnis hatten. Die Leute sollten denken, daß er mit Dickon und Mary ausfuhr, weil er die beiden mochte, weil es ihm nichts ausmachte, wenn sie ihn ansahen. Sie führten ausgiebige Gespräche über den Weg, den sie einschlagen wollten. Sie würden um den Springbrunnen spazieren und tun, als bewunderten sie die Blumenbeete, die Mr. Roach, der Obergärtner, angelegt hatte. Das würde so selbstverständlich aussehen, daß wohl kein Mensch auf den Gedanken kam, etwas Geheimnisvolles zu wittern. Ihre Pläne erschienen ihnen ebenso kompliziert wie die Aufmarschpläne berühmter Generäle im Krieg. Gerüchte über seltsame Dinge, die im Krankenzimer vorgingen, drangen bis in das Dienerzimmer und von dort in die Ställe und zu den Gärtnern. Trotzdem war Obergärtner Roach überrascht, als ihm eines Tages mitgeteilt wurde, er möge sich ins Krankenzimmer begeben, das bisher kein Außenseiter betreten hatte.
»So, so«, sagte er, während er in einen anderen Rock schlüpfte, »Seine Königliche Hoheit, die bisher unsichtbar blieb, ruft einen Mann, den sie noch nie gesehen
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