Der geheime Garten
sah Colin etwas, das er bisher übersehen hatte.
»Da drüben steht ein sehr alter Baum«, sagte er.
Dickon schaute hin, und Mary schaute hin. Eine kleine Stille entstand.
»Ja«, sagte Colin endlich, und seine Stimme klang sehr sanft. »Die Zweige sehen ganz grau aus. Kein einziges Blatt ist daran. Der ist ganz tot, nicht wahr?«
»Ja«, gab Dickon zu. »Aber wenn die Rosen daran blühen, wird der Baum nicht tot aussehen. Dann wird er der hübscheste Baum in diesem Garten sein.«
Mary hing immer noch ihren Gedanken nach. »Es sieht aus, als wäre ein großer Ast abgebrochen«, sagte Colin. »Wer hat das wohl getan?«
»Das war vor vielen Jahren«, antwortete Dickon.
»Oh«, rief er plötzlich erregt, »das Rotkehlchen! Da ist es! Es hat für sein Weibchen nach Futter gesucht.«
Colin schaute fast zu spät hin, konnte aber eben noch einen Blick auf einen Vogel mit roter Brust werfen, der einen Wurm im Schnabel trug. Der Vogel zwängte sich in das Blättergewirr an der Mauer und war nicht mehr zu sehen. Colin lehnte sich lachend in seine Kissen zurück.
»Er kommt noch rechtzeitig zu ihr zum Tee«, sagte er. »Vielleicht ist es fünf Uhr. Ich würde auch ganz gern Tee trinken.«
»Ein Zauberer hat das Rotkehlchen geschickt«, sagte Mary hinterher heimlich zu Dickon. »Ich weiß es bestimmt.«
Sie hatten befürchtet, Colin würde weiter nach dem toten Baum fragen, dessen Ast vor Jahren abgebrochen war. Sie hätten nicht gewußt, was sie weiter sagen sollten.
»Wenn er wieder darauf zu sprechen kommt, müssen wir ein fröhliches Gesicht machen«, meinte Dickon.
»Ja, das müssen wir«, sagte Mary.
Aber sie hatte sich unbehaglich gefühlt, als Colin den Baum betrachtete. Sie überlegte, ob es wohl wahr war, was Dickon früher einmal dazu meinte. Er hatte seinen rostroten Schöpf gerieben, und dann erschien ein heimliches Leuchten in seinen Augen.
»Mrs. Craven war eine sehr schöne junge Dame«, hatte er damals zögernd gesagt. »Mutter glaubt, daß sie immer noch in Misselthwaite ist und sich um ihr Kind kümmert. Alle Mütter, die aus dieser Welt gehen müssen, tun das. Sie kommen zurück und kümmern sich. Vielleicht war sie die ganze Zeit in diesem Garten und hat uns geholt, damit wir Colin hierherbringen.«
Mary dachte, er spreche von Zauberei. Davon hielt sie sehr viel. Im Stillen glaubte sie, daß Dickon zaubern konnte. Er übte aber einen guten Zauber aus, darum liebten ihn die Menschen so sehr. Sogar die Tiere wußten, daß er ihr Freund war. Sie hielt es durchaus für möglich, daß er im richtigen Moment, als Colin die verfängliche Frage stellte, das Rotkehlchen herbeigezaubert hatte. Der Zauber hielt den ganzen Nachmittag an und verwandelte Colin auf wunderbare Weise. Man konnte sich jetzt nicht vorstellen, daß er das unvernünftige Wesen gewesen war, das geschrien und um sich geschlagen und in seine Kissen gebissen hatte. Seine Blässe war fort. Er sah aus, als wäre er endlich aus Fleisch und Blut und nicht aus Elfenbein oder Wachs. Zwei- oder dreimal sahen sie, wie das Rotkehlchen für sein Weibchen Futter holte. Das erinnerte sie wieder an ihren Tee. Colin sagte, sie müßten ihn unbedingt gleich haben.
»Geh doch bitte ins Haus und bestelle, daß ein Diener einen Korb mit Tee und Gebäck in den Rhododendronweg bringt. Dort kannst du ihn ja mit Dickon abholen.«
Es war ein vorzüglicher Gedanke, der sich auch leicht durchführen ließ. Als das weiße Tischtuch auf dem Gras ausgebreitet war und heißer Tee, gebutterter Toast und Hörnchen bereitstanden, aßen sie mit großem Appetit. Vögel, die auf ihren geschäftigen Flügen vorbeikamen, hielten an und untersuchten gründlich die Krumen, die für sie abfielen. Nuß und Schale huschten mit einer kleinen Beute von Kuchen die Baumstämme hinauf. Ruß schleppte eine halbe Toastschnitte in einen Winkel, pickte darauf herum und machte mit heiserer Stimme Bemerkungen dazu. Zum Schluß schluckte die Krähe das ganze Stück mit großem Behagen hinunter.
Der Nachmittag ging zu Ende. Die Sonne warf lange Strahlen, die Bienen waren heimgeflogen, und Vögel flogen nur noch selten vorüber. Mary und Dickon saßen im Gras. Colin lag in seinen Kissen. Seine schweren Locken fielen ihm in die Stirn. Er hatte rosige Wangen. »Ich wünschte, dieser Nachmittag würde nie vergehen«, sagte er. »Morgen komme ich wieder, und übermorgen auch und — und jeden Tag, — immer wieder.«
»So wirst du jedenfalls genügend frische Luft bekommen«, sagte
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