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Der geheime Garten

Der geheime Garten

Titel: Der geheime Garten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frances Hodgson Burnett
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keuchte Colin.
    »Und hier ist die Klinke. Und da ist das Tor. Dickon, fahr näher heran! Fahr durch das Tor. Fahr schnell!«
    Dickon tat es mit ruhigem, sicherem Griff.
    Colin fiel in seine Kissen zurück. Er atmete erregt und bedeckte die Augen mit den Händen, bis sie wirklich im Garten waren. Der Rollstuhl stand still. Der Augenblick der Verzauberung war da! Das Tor fiel hinter ihnen ins Schloß. Colin nahm die Hände von den Augen und schaute unverwandt, wie Dickon und Mary es getan hatten. Die warme Sonne legte sich auf sein Gesicht wie eine liebende Hand. Atemlos blickten Mary und Dickon ihn an. Er sah verändert und eigenartig aus. Ein rosiger Hauch färbte sein Gesicht, das sonst elfenbeinern und fahl war. Sein Gesicht, sein Nacken, seine Hände schienen in rosa Farbe getaucht zu sein.
    »Ich werde leben! Ich werde gesund werden«, rief er. »Mary! Dickon! Ich werde ewig leben!«

Ben Weatherstaff
    Es gehört zu den seltsamen Dingen in der Welt, daß man nur dann und wann das sichere Gefühl hat, man werde ewig leben. Es kann geschehen, wenn man in der Morgendämmerung ins Freie geht und beobachtet, wie sich der blasse Himmel langsam verändert. Wunderbares ereignet sich, bis man aufschreit und einem das Herz stillzustehen droht, weil sich plötzlich in herrlicher Majestät die Sonne erhebt. So ist es immer, denkt man dann, jeden Morgen, seit Tausenden und aber Tausenden von Jahren. Und da, in diesem Augenblick, weiß man es mit untrüglicher Sicherheit. Man kann es auch spüren, wenn man bei Sonnenuntergang allein im Wald steht und goldenes Licht durch die Bäume sickert. Oder unter der unendlichen Stille des blauen Nachthimmels, wenn Millionen von Sternen schimmern. Auch der Klang einer fernen Musik kann uns jene Gewißheit geben. Und manchmal ist es der Blick eines menschlichen Auges.
    So erging es Colin, als er im geheimen Garten zum erstenmal den Frühling erlebte. An diesem Nachmittag schien die ganze Welt entschlossen zu sein, sich einem kleinen Jungen in all ihrem Glanz und ihrer Vollkommenheit zu offenbaren. Ja, der Frühling war da und verwandelte alles. Dickon schüttelte verwundert den Kopf.
    »Glaubst du, es sei meinetwegen?« fragte er.
    »Wer weiß?« rief Mary fröhlich.
    Sie schoben den Rollstuhl unter einen Pflaumenbaum, der schneeweiß in Blüte stand, voller Blüten und summenden Bienen. Er war wie ein Baldachin für einen König, einen Märchenkönig. Blühende Kirschbäume, blühende Apfelbäume mit weißen und rötlichen Blüten, manche schon weit offen, wetteiferten miteinander. Zwischen den Blüten des Baldachins leuchtete hier und da ein Stück blauen Himmels.
    Mary und Dickon arbeiteten da und dort ein wenig, und Colin sah ihnen zu. Sie brachten ihm Dinge zum Beschauen — Knospen, die noch fest geschlossen waren, Knospen, die sich eben öffneten, Zweige, deren Blättchen grün sprossen, die Feder eines Spechtes, die im Gras gelegen hatte, die leere Eierschale eines Vogels, der vorzeitig ausgeschlüpft war.
    Langsam schob Dickon den Rollstuhl durch den Garten und zeigte Colin alles, was der Frühling aus der Erde zauberte. Es war, als würde ein König durch sein Besitztum geführt, damit er den Reichtum sehe, den es enthielt.
    »Ich hoffe, wir werden auch das Rotkehlchen sehen«, sagte Colin.
    »Du wirst es bald oft genug sehen«, antwortete Dickon. »Wenn seine Jungen aus dem Ei schlüpfen, wird es dauernd hin und herfliegen müssen, um sie satt zu bekommen. Es wird Würmer herbeiholen, die fast so groß sind wie es selber. Der Lärm, mit dem es im Nest empfangen wird, macht es ganz schwindlig. Es weiß dann nicht, welchen Schnabel es zuerst stopfen soll. Mutter sagt, wenn sie ein Rotkehlchen beobachtet, das seine Jungen füttern muß, komme sie sich vor wie eine Dame, die nichts zu tun hat. Sie denke immer, es müsse vor Anstrengung schwitzen, obwohl man das natürlich bei einem Vogel nicht sehen kann.«
    Die drei fingen darüber so laut zu lachen an, daß sie erschreckt den Mund mit den Händen bedecken mußten. Schon vor Tagen hatten sie Colin eingeschärft, daß sie in ihrem Garten nur flüstern oder mit gedämpfter Stimme reden durften. Er fand das wunderbar geheimnisvoll und tat sein Bestes, aber manchmal ist es schwer, nicht laut zu lachen. Jede Minute dieses Nachmittags brachte neue Wunder, und von Stunde zu Stunde wurde die Sonne goldener. Der Rollstuhl stand nun wieder unter dem Baldachin. Dickon setzte sich ins Gras und nahm seine Flöte hervor. In diesem Augenblick

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