Der geheime Garten
Mary.
»Das will ich auch«, erwiderte er, »Jetzt habe ich den Frühling gesehen, und ich werde auch den Sommer sehen. Jetzt werde ich alles wachsen sehen. Ich werde hier selber wachsen.«
»Bestimmt wirst du das«, sagte Dickon. »Es wird nicht lange dauern, dann läufst und gräbst du hier herum wie wir.«
Colin errötete vor Eifer. »Laufen!« sagte er. »Graben! Ich?«
Dickon sah ihn prüfend an. Weder er noch Mary hatten ihn jemals gefragt, ob mit seinen Beinen etwas nicht in Ordnung sei.
»Natürlich wirst du das tun«, wiederholte Dickon standhaft. »Du hast ja schließlich Beine wie andere Leute auch.«
Mary erschrak. Ängstlich wartete sie auf Colins Antwort.
»Eigentlich fehlt meinen Beinen nichts«, sagte er; »aber sie sind so dünn und schwach und zittern so, daß ich mich nicht traue, sie zu bewegen.«
Mary und Dickon atmeten erleichtert auf. »Wenn du keine Angst mehr hast, dann werden sie dich schon tragen«, lachte Dickon. »Und du wirst nun bald keine Angst mehr haben.«
»Glaubst du?« zweifelte Colin und lag eine Weile ganz still. Er schien nachzudenken.
Die Sonne sank tiefer. Es war die Stunde, da alles verstummt. Sie hatten einen aufregenden Nachmittag hinter sich. Colin schien die Stille als wohltuend zu empfinden. Selbst die Tiere bewegten sich nicht mehr um die Kinder herum. Die Krähe Ruß kauerte auf einem niedrig hängenden Zweig, ein Bein hochgezogen; sie döste vor sich hin.
Mitten in diese Stille hinein flüsterte Colin plötzlich erregt:
»Wer ist der Mann da drüben?«
Dickon und Mary sprangen auf die Füße.
»Welcher Mann? Wo?« riefen sie gleichzeitig.
Colin deutete auf die hohe Mauer.
»Dort«, flüsterte er, »dort drüben!«
Die beiden fuhren herum. Über der Mauer erblickten sie Ben Weatherstaffs empörtes Gesicht. Er stand auf den obersten Sprossen einer Leiter. Er schüttelte die Faust gegen Mary.
»Wenn ich kein Junggeselle wäre, und wenn du meine Tochter wärst, dann kriegtest du jetzt Schläge!«
Er stieg noch eine Sprosse höher, als ob er die Absicht hätte, in den Garten zu springen. Noch immer drohte er mit der Faust.
»Ich habe nie viel von dir gehalten«, begann er seine Standpauke. »Ich mochte dich nicht, als ich dich zum erstenmal sah, mit deinem zerknitterten Buttermilchgesicht. Und immer Fragen stellen! In alles die Nase stecken, wo sie nichts zu suchen hat. Ich weiß nicht, warum ich mich mit dir überhaupt eingelassen habe. Bloß weil Robin, der dumme Bursche —«
»Ben Weatherstaff«, rief Mary, um Atem ringend. Sie stand dicht unter ihm und rief zu ihm hinauf: »Ben Weatherstaff, es war ja gerade das Rotkehlchen — das mir den Weg gezeigt hat.«
Jetzt schien es, als wolle Ben Weatherstaff wirklich herunterspringen, so wütend wurde er.
»Du böses Kind«, wetterte er. »Für deine Schlechtigkeit willst du auch noch das Rotkehlchen verantwortlich machen!«
Plötzlich übermannte ihn die Neugier. »Wie um alles in der Welt bist du nur hier hereingekommen?«
»Das Rotkehlchen hat mir den Weg gezeigt«, wiederholte Mary tapfer. »Robin wußte natürlich nicht, was er tat, aber es war ganz bestimmt so. Und ich kann es dir nicht erklären, solange du mir mit der Faust drohst.«
Er ließ die Hand herunterfallen. Plötzlich starrte er über ihren Kopf hinweg auf etwas, das über den Rasen auf ihn zukam.
Beim ersten Redeschwall aus Weatherstaffs Mund war Colin so überrascht, daß er ganz still dasaß und wie gebannt zuhörte. Dann erholte er sich und sah Dickon gebieterisch an.
»Fahr mich dorthin«, befahl er. »Ganz nah zu diesem Mann hin!«
Und das war es, was Ben Weatherstaff erblickte, und sein Unterkiefer fiel herunter; ein Rollstuhl mit prächtigen Kissen und Decken kam auf ihn zu. Der Wagen sah aus wie eine Staatskutsche, weil ein junger Rayah darin saß, königlichen Grimm in seinen schwarzbewimperten Augen. Gerade unter Weatherstaffs Leiter hielt der Rollstuhl an. Es war wirklich kein Wunder, daß Ben Weatherstaffs Mund offen blieb.
»Weißt du, wer ich bin?« fragte der Rayah.
Ben Weatherstaff erstarrte. Seine alten rotgeränderten Augen hingen unverwandt an dem kleinen Gesicht vor ihm. Er schien einen Geist zu sehen. Er starrte und staunte und schluckte einen Kloß, der plötzlich in seiner Kehle steckte. Er sagte kein Wort.
»Weißt du, wer ich bin?« fragte Colin ungnädig. »Antworte!«
Ben Weatherstaff fuhr sich mit seiner knotigen Hand über Augen und Stirn. Dann antwortete er mit seltsam gebrochener
Weitere Kostenlose Bücher