Der geheime Garten
dann an den Baum lehnen, wenn ich will. Erst wenn ich wirklich will, möchte ich mich wieder hinsetzen. Bring eine Decke vom Rollstuhl
Er ging auf den Baum zu. Obgleich Dickon seinen Arm hielt, ging er stetig und mit eigener Kraft. Am Baum angekommen, lehnte er sich mit dem Rücken dagegen. Aber er hielt sich noch immer wunderbar aufrecht und wirkte groß. Als Ben Weatherstaff durch das Tor in der Mauer kam, sah er ihn dort stehen, und im gleichen Moment hörte er, wie Mary etwas vor sich hin murmelte.
»Was sagst du?« fragte er leise, ohne den Blick von dem großen, schlanken Jungen dort drüben zu wenden.
Mary antwortete nicht. Sie hatte Colin im Geist beschworen: »Du kannst es! Du kannst es! Ich hab ja gewußt, daß du es fertigbringst!« Aber das sagte sie Ben nicht. Sie würde es nicht ertragen, wenn er vor Ben Weatherstaff in die Knie ging. Doch Colin gab nicht nach. Sie fand ihn plötzlich wunderschön. Er richtete seine Augen auf Ben Weatherstaff.
»Sieh mich an«, befahl er wieder. »Hab ich einen Buckel? Hab ich verkrüppelte Beine?«
Ben Weatherstaff hatte sich so weit erholt, daß er fast mit seinem alten Gleichmut erwidern konnte:
»Nein, du hast weder das eine noch das andere. Was haben sie nur mit dir gemacht? Warum haben sie dich vor allen Leuten versteckt, als wärst du verkrüppelt oder nicht ganz gescheit?«
»Nicht ganz gescheit?« fragte Colin. »Wer behauptet das?«
»Viele Narren«, sagte Ben. »Die Welt ist voll von schwatzhaften Eseln. Warum haben sie dich eingeschlossen?«
»Weil jeder dachte, daß ich bald sterben müßte«, erklärte Colin kurz. »Aber ich werde nicht sterben!«
Er sagte es so entschieden, daß Ben Weatherstaff ihn von oben bis unten erstaunt betrachtete.
»Du und sterben! Nie im Leben! Dazu hast du viel zuviel Mut. Als ich sah, wie tapfer du deine Füße auf die Erde stelltest, da wußte ich, daß du in Ordnung bist. Setz dich jetzt ein bißchen auf die Decke, Master, und gib mir deine Befehle.«
Sein Benehmen war eine Mischung aus rauher Zärtlichkeit und verschmitztem Verständnis. Mary hatte ihm auf dem Weg hierher erklärt, daß Colin gesund werden würde, wenn er von nun an in diesen Garten käme. Man dürfte mit ihm nicht über Buckel oder Sterben reden.
Der Rayah ließ sich gnädig auf seine Decke nieder, die unter den Baum gebreitet worden war.
»Welche Arbeit verrichtest du in den Gärten?« forschte er.
»Alles was man mir zu tun befiehlt. Ich bekomme hier das Gnadenbrot — weil sie mich gern hatte.«
»Sie?« fragte Colin.
»Deine Mutter«, antwortete Weatherstaff.
»Meine Mutter«, sagte Colin und blickte Ben Weatherstaff ruhig ins Gesicht. »Das hier war ihr Garten, nicht wahr?«
»Ja, das war er.« Ben erwiderte den Blick. »Sie liebte ihn sehr!«
»Jetzt ist es mein Garten, ich liebe ihn auch. Ich will jeden Tag hierherkommen. Aber es muß unser Geheimnis bleiben. Mein Befehl lautet: Niemand darf erfahren, daß wir hier zusammenkommen. Dickon und meine Cousine haben in diesem Garten gearbeitet und ihn wieder lebendig gemacht. Ich werde gelegentlich nach dir schicken, damit du uns hilfst — aber du darfst nur kommen, wenn dich niemand sieht.«
Ben Weatherstaffs Gesicht verzog sich zu einem breiten Lächeln.
»Ich bin schon früher hierhergekommen, wenn niemand es sah«, sagte er.
»Wie?« rief Colin. » Wann? «
»Zum letztenmal vor zwei Jahren«, antwortete Ben Weatherstaff und rieb sein Kinn.
»Aber seit zehn Jahren hat niemand den Garten betreten. Es gibt ja kein Tor!« rief Colin verwundert.
»Ich bin Niemand«, sagte Ben trocken. »Und ich kam nicht durch das Tor. Ich kam über die Mauer. In den letzten zwei Jahren konnte ich das allerdings nicht mehr — wegen meines Rheumatismus.«
»Du bist hereingekommen, Ben, und hast die Bäume und die Rosen beschnitten. Ich habe mich immer gefragt, wer das getan haben konnte«, sagte Dickon.
»Sie liebte sie sehr — o ja!« sagte Ben Weatherstaff langsam. »Und war so jung und hübsch. Ben , sagte sie einmal lachend, wenn ich einmal krank werden sollte oder weggehen muß, dann wirst du dich um die Rosen kümmern. Als sie uns dann verlassen hatte, kam der Befehl, daß niemand in den Garten dürfe. Ich bin trotzdem hineingegangen«, sagte er grimmig, »bis mein Rheuma mich daran gehindert hat. Einmal im Jahr habe ich in ihrem Garten gearbeitet. Schließlich hat sie mir ihren Befehl zuerst gegeben.«
»Hier wäre nicht mehr so manches lebendig, wenn du das nicht getan hättest«,
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